Anthropologe aus Leidenschaft
Preisvergabe: Benjamin Baumann und Prof. Dr. iur. Eva Inés
Obergfell, Vizepr?sidentin für Lehre und Studium
Foto: Ralph Bergel
Eigentlich wollte Benjamin Baumann Arzt werden oder eine Bar er?ffnen – doch dann kam alles ganz anders: Ende der 90er Jahre unternahm der Wissenschaftler, der damals gerade seinen Zivildienst in einem Krankenhaus absolvierte, eine Reise nach Thailand. Fortan war seine Neugier geweckt, er studierte Ethnologie, w?hlte als zweites Hauptfach Südostasien-Studien, lernte Thai. ?Thailand zu verstehen ist für mich ein Lebensprojekt.“ Dieses Engagement, dieser Ehrgeiz, zu begreifen, überzeugen auch Studierende und Kollegen: Benjamin Baumann wurde mit dem Preis für gute Lehre 2017 ausgezeichnet.
Seit rund 20 Jahren f?hrt Benjamin Baumann immer wieder nach Thailand. In der Nordost-Region, die die ?rmste des Landes ist, führte der Regionalwissenschaftler ethnografische Feldforschungen über die sozio-kulturelle Selbstwahrnehmung der dort ans?ssigen Khmer-Sprecher durch. ?Es gibt etwa eine Million Khmer-Sprecher in Thailand. Diese Menschen werden im ?ffentlichen Diskurs Thailands oftmals als primitive Dorfdeppen stigmatisiert und mit dem Nachbarland Kambodscha assoziiert. Sie selbst begreifen sich aber als Thai und nicht als Kambodschaner,“ erl?utert der Anthropologe. Im Rahmen seiner 500 Seiten starken Promotionsschrift, die der Forscher im Sommer 2017 erfolgreich verteidigte, erl?utert Baumann unter anderem, dass ein lokaler Khmer-Dialekt im Nordosten Thailands haupts?chlich im Rahmen ritueller Handlungen, also als Ritualsprache, zum Einsatz kommt.
Genuines Interesse am Gegenüber
Mittlerweile forscht der Wissenschaftler zu Geisterglaube, Besessenheit und Ahnenkulten, die über die Mutter vererbt werden. ?Die Menschen in diesen Dorfgemeinschaften begreifen sich nicht als Individuen, sondern als Dividuen. Das bedeutet, dass sich eine menschliche Person aus mehreren geisterhaften Komponenten zusammensetzt“, so der Forscher. Dementsprechend verfüge jede Person über Anteile nicht-menschlicher Wesenheiten, die ein Leben lang in Ritualen domestiziert und an die Person gebunden werden müssen. ?Es geht mir nicht darum, unbedingt Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen soziokulturellen Gruppen, zwischen Westeuropa und Südostasien entdecken zu müssen. Mich fasziniert das Andere, das, was von meinem Denken abweicht.“
Dieses genuine Interesse am Gegenüber zeichnet Benjamin Baumann nicht nur in seiner Forschung aus. In der Lehre überzeugt er Studierende mit egalit?rem Stil und ermuntert sie, wissenschaftlich eigene Wege zu gehen – so auch im Seminar ?Liminalit?t in Berlin: Von der Idee zum Forschungsprojekt“. Für dessen anspruchsvolle Konzeption und originelle Durchführung erhielt der Südostasienexperte den Preis für gute Lehre. Nominiert hatten ihn sechs seiner Studierenden. Auch das Dekanat der Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaftlichen Fakult?t sowie das Institut und die Fachschaft Asien- und Afrikawissenschaften unterstützten die Nominierung nachdrücklich.
Altersheime und Berlins Technoszene
?Im Seminar haben wir erleben dürfen, wie ein Forschungsprozess abl?uft: Von der Entwicklung der Fragestellung, über die Datenerhebung im Feld bis hin zur Auswertung in der schriftlichen Arbeit“, berichtet Teilnehmerin Selina Kerscher. Thema des Praxisseminars war Liminalit?t – ein Konzept, das Schwellenzust?nde beschreibt. Demzufolge befinden sich Menschen in einem liminalen Zwischenstadium, wenn sie sich von der herrschenden Sozialordnung abgel?st haben. Das trifft etwa auf einen Studierenden zu, der sein Studium abgeschlossen hat, aber noch nicht zur Gruppe der Arbeitnehmer geh?rt. ?Wir werden in unserem Alltagsleben quasi von Liminalit?t heimgesucht“, sagt Benjamin Baumann und lacht ?wir haben nur gelernt, sie zu übersehen.“ Zwischenzust?nde h?tten viel h?here Konjunktur, als man auf den ersten Blick vermuten würde.
Die 金贝棋牌wahl im Seminar fiel auf Altersheime und die Technoszene in Berlin. ?Diese liminalen R?ume zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass sie ?ffentlich kaum sichtbar und schwer zu klassifizieren sind“, erl?utert Baumann. Die Technoszene sei ein Ort jenseits der üblichen gesellschaftlichen Verhaltenskodizes, im Altersheim bef?nden sich die Bewohner an der Schwelle zum Tod. ?Die Feldforschung im Altersheim war eine sehr aufwühlende Erfahrung für die Studierenden und hat Thesen zur Liminalit?t best?tigt: Die Interviewten sagten, sie h?tten das Gefühl, unsichtbar zu sein und in der Gesellschaft keine Rolle mehr zu spielen.“ Ganz andere Erfahrungen machte die Gruppe von Nachwuchsforschern, die in Technoclubs recherchierte: ?Es stellte sich heraus, dass die Technoszene einer rituellen Gemeinschaft ?hnelt, in der alles geteilt wird und gemeinsamer Drogenkonsum an der Tagesordnung ist. Hier war die gr??te Schwierigkeit, Interviewpartnerinnen und Interviewpartner zu finden.“
Preisgeld für Feldforschungsprojekte in Thailand
金贝棋牌 gemeinsam erarbeiten, auf jeden individuell eingehen, flache Hierarchien – das ist Baumanns Erfolgsrezept. Wichtiger als die Ergebnisse selbst sei, dass die Studierenden ihre Rolle als Forscherinnen und Forscher reflektierten und sich damit auseinandersetzten, wie ein verantwortungsvoller Umgang mit Daten und Interviewpartnern aussieht. ?Letztlich gestalte ich die Seminare so, wie ich sie selbst gerne gehabt h?tte.“ Für die meisten Studierenden im Kurs sei die M?glichkeit, innerhalb der Universit?t praktische Erfahrungen zu sammeln und selbstst?ndig ein Forschungsprojekt zu entwickeln, ein Novum und eine Inspiration gewesen, best?tigt Selina Kerscher.
Mit dem Preisgeld will der Wissenschaftler Studierenden kleinere Feldforschungsprojekte in Thailand erm?glichen. Auch das von ihm organisierte Austauschprogramm, das Studierende, die an der HU Thai lernen, für jeweils zwei Monate als Englischlehrer nach Thailand entsendet, wird weitergehen. Daneben führt Baumann sein PostDoc-Projekt zu lokalen Ahnenkulten fort. Mit seiner Frau und seinen zwei Kindern wohnt der Anthropologe dann im Stammhaus seiner thail?ndischen Gastfamilie, für das er in einem aufwendigen Adoptionsritual lebenslanges Wohnrecht erworben hat. Ein au?ergew?hnliches Zeichen von freundschaftlicher Verbundenheit, Respekt und Wertsch?tzung.
Autorin: Nora Lessing