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Material, das durch die H?nde rinnt
Im Exzellenzcluster ?Matters of Activity“ forschen Wissenschaftler*innen zu den Materialien der Gegenwart und der Zukunft. Die Forscherinnen Léa Perraudin und Iva Re?etar besch?ftigen sich mit Paraffin, einem sehr ver?nderlichen Material, das ?kologische und geopolitische Fragen aufwirft.
Das Projekt ?Latent Accumulations“ des Exzellenzclusters ?Matters of Activity“ befasst sich mit Paraffin, einem schwer greifbaren Material – von seinem Anschwemmen an der Ostseeküste der Kurischen Nehrung in Litauen bis hin zu dringenden ?kologischen und geopolitischen Fragen.
?hnlich wie Bernstein, aber doch in anderer Gr??e und Anzahl liegen sie am Strand der Kurischen Nehrung in Litauen: grau-wei?e oder gelb-br?unliche w?chserne Brocken, mal gr??er, mal kleiner, unscheinbar und entfernt nach Erd?l riechend: ?Das Paraffin ist den Einwirkungen der Umwelt st?ndig ausgesetzt. Es wird durch K?lte geformt oder von Hitze verflüssigt und mit Sand vermischt“, sagt Iva Re?etar, Wissenschaftlerin im Exzellenzcluster ?Matters of Activity“. Nicht nur die Ver?nderlichkeit des Materials selbst, auch seine Verbreitung in der Landschaft und Verschmutzung der Str?nde, insbesondere im Zusammenhang mit umliegenden ?linfrastrukturen, interessiert die Architektin.

Die Wissenschaftlerinnen Iva Re?etar und Léa Perraudin.
Foto: Stefan Klenke
Das Paraffin ist nie allein und isoliert, lautet eine der Ausgangsthesen des Projekts ?Latent Accumulations“. ?Es überschreitet die landschaftliche Schwelle zwischen Meer und Strand, die geopolitische Grenze zwischen Litauen und Russland – und es ist entweder pl?tzlich haufenweise da oder es sammelt sich erst allm?hlich an“, stellt ihre Projektkollegin, die Medienwissenschaftlerin und Kulturanthropologin Léa Perraudin, fest. Ob und wann das passiert, sei für die Anwohner*innen und Mitarbeitenden des Nationalparks Kurische Nehrung nicht vorhersehbar.
Stoffe im Wechselspiel mit der Umgebung
Für die beiden Wissenschaftlerinnen war der Ausl?ser für die n?here Befassung mit dem ver?nderlichen Material eine Einladung ins Werkstoffarchiv der Stiftung Sitterwerk im schweizerischen St. Gallen. Dass dort Materialien wie Paraffin mit jeweils verwandten Stoffen wie Bienenwachs oder Fetten als reine, feste Substanzen ausgestellt werden, ?brachte uns dazu, diese Art der Ordnung und Stabilisierung der Dinge zu hinterfragen“, sagt Iva Re?etar. Das Paraffin selbst eignete sich aufgrund seines hybriden, mal flüssigen, mal festen Zustands bestens dazu. In der benachbarten Kunstgie?erei h?tten sie beide beobachten k?nnen, ?wie es in einem Prozess st?ndig geschmolzen, geh?rtet und geformt“ und dabei zum Hilfsmaterial künstlerischer Praxis wurde.
Die Forschungen sind in das Exzellenzcluster ?Matters of Activity“ eingebettet, dessen Name darauf anspielt, dass sowohl Materialien als auch Angelegenheiten aktiv bzw. ver?nderlich sind. Normalerweise stünden in der Architektur feste Stoffe wie Stahl oder Beton sowie solide Konstruktionen im Mittelpunkt und nicht ihre Umgebungen, betont Iva Re?etar. Besonders interessant für sie seien jene Stoffe, die ihren Zustand ver?ndern, wie Wachse, die nicht an ein Objekt gebunden sind, aber sich im Wechselspiel mit der Umgebung befinden.
Frage des Naturschutzes besonders dringlich
Um sich weiter mit dem synthetischen Paraffin zu besch?ftigen, reisten Re?etar und Perraudin im Rahmen einer Forschungsresidenz an der Nida Art Colony der Vilnius Academy of Arts im Januar 2025 erneut auf die Kurische Nehrung. Im Sommer 2024 fuhren sie zu einer ersten Sichtung der Verschmutzung an die langen Str?nde des UNESCO-Weltkulturerbes.?
Das Aufkommen von Paraffin sei auch historisch interessant, sagt Léa Perraudin. Beim Raffinieren von Erd?l entstand das wei? durchscheinende, geruchlose Nebenprodukt in gro?er Menge – und wurde in der Lebensmittel- und Kosmetikindustrie sowie in der Medizintechnik eingesetzt. Warum es sich als Abfallstoff in der Baltischen See ablagert, dazu gebe es von Seiten der Forschung und von Umweltinitiativen verschiedene Theorien.
Denn der Ort Nida liegt nahe der Grenze zur russischen Exklave von Kaliningrad – einer nahezu unsichtbaren Grenze mitten im Weltkulturerbe. ?Die Frage des Naturschutzes ist hier besonders dringlich“, betont Perraudin. Der einen Theorie nach ist es die ?lplattform, die im russischen Teil der Ostsee liegt und bei ungünstiger Str?mung den Strand verschmutzt. Die andere macht die Erd?l-Tanker verantwortlich, die auf offener See verbotenerweise ihre Tanks reinigen, so dass Paraffin-Rückst?nde ins Wasser gelangen. ?Das Material k?nnte demnach, wenn es sich mit dem kalten Wasser vermischt, vom flüssigen in den festen Zustand übergehen.“
2020 organisierte der Nationalpark die bis dato gr??te Sammelaktion, bei der die Brocken ganze Container füllten. ?Die Menschen waren gezwungen zu handeln“, stellt Iva Re?etar fest. ?Wir haben mit den Anwohner*innen, mit Hafenarbeiter*innen und Meeresforscher*innen der Uni Klaipeda gesprochen, um aus verschiedenen Perspektiven ein Bild der Paraffinverschmutzung zu zeichnen.“ Die Forscherinnen wollen allerdings keine wissenschaftlichen Fakten liefern, sondern haben eigene Methoden entwickelt, um dem schwer greifbaren Material n?her zu kommen.
?Material irreversibel mit der Umgebung vermischt“
?Bei unseren gemeinsamen Spazierg?ngen mit Menschen, die den Ort gut kennen oder von au?erhalb kommen, kommen wir darüber ins Gespr?ch, welche Erinnerungen sie mit dem Paraffin verknüpfen“, berichtet Léa Perraudin. ?Hier stellen wir immer wieder fest, dass es direkten Austausch mit Menschen aus der Zivilgesellschaft vor Ort braucht, um dringende ?kologische und soziale Fragen gemeinsam zu verhandeln.“

Das Projekt ?Latent Accumulations“ des Exzellenzclusters
?Matters of Activity“ befasst sich mit Paraffin.?
Foto: Anna Luise Schubert
Aus anthropologischer Perspektive lie?en sich verschiedene Dynamiken beobachten, wie unterschiedlich Menschen mit dem Material und der Unklarheit umgehen, woher es kommt. Eine Frau, die auf der Kurischen Nehrung aufgewachsen war, habe beispielsweise erz?hlt, dass sie in ihrer Kindheit dort ?fters mit der Familie auf Strandurlaub war. ?Sie war überrascht. Den Geruch des in der Sonne erw?rmten Paraffins schrieb sie eigentlich dem Strand zu“, so die Wissenschaftlerin. ?Das Material ist also irreversibel mit der Umgebung vermischt und schreibt sich in die Erinnerung ein.“
Das Projekt zielt auch darauf zu kritisieren, wie Menschen die natürlichen Ressourcen ausbeuten, in verschiedene Bestandteile trennen und diese teilweise wieder als Müll oder Chemikalie an die Umwelt zurückgeben – mit allen Folgen für die umliegenden Gemeinden und die Menschen. ?Es werden aus der Erde mit gr??ter Selbstverst?ndlichkeit Erd?l und Mineralien extrahiert, die für unsere technologische Kultur ben?tigt werden“, sagt Perraudin. Die Kulturanthropologin rechnet sich einem jüngeren Forschungsfeld der ?Environmental Humanities“ zu, die diese konfliktbehaftete Beziehung in den Vordergrund rücken und mit kritischen Methoden wie feministischen und dekolonialen Theorien verbinden. ?Ich m?chte wissen, was passiert, wenn uns ver?nderliche Materialien durch die H?nde gleiten. Das ist kein neutraler Prozess, sondern eine ?ffentliche Angelegenheit.“
?Jede Putzaktion der Tanker provoziert eine Putzaktion am Strand“??
Paraffin gilt in fester Form als Meeresmüll, in flüssiger als chemische Kontamination – und unterliegt somit unterschiedlichen gesetzlichen Bestimmungen. Dass es vom physischen Zustand abh?ngt, wie man mit Material umgeht, sei frappierend. Das Projekt trage dazu bei, Gespr?che über die ?kologische Krise oder die Art und Weise anzusto?en, wie die Menschen zusammenleben wollen.
Mittlerweile sei die baltische Küste weniger durch Paraffin verschmutzt und das Bewusstsein für das Problem gr??er geworden, erg?nzt Iva Re?etar. Strengere Gesetze seien dennoch wichtig, damit Schiffe das verschmutzte Abwasser nicht mehr ins Meer verklappen. ?Jede Putzaktion der Tanker provoziert sp?ter eine Putzaktion am Strand.“? Eine nicht endende Aktivit?t, werden die Brocken doch wieder und wieder dort angespült. Wann genau, das wissen die Menschen vor Ort nicht. ?Im Zentrum unserer kollaborativen Methoden stehen deshalb Fragen zu anderen M?glichkeiten der Pflege und Erhaltung von fragilen Landschaften.“
Sonderausstellung im Tieranatomischen Theater
Vom 9. bis 31. Mai ist eine Sonderausstellung innerhalb der Ausstellung ?muddy measures. When wetlands and heritage converse“ des Centre for Advanced Studies inherit, heritage in tranformation“ im Tieranatomischen Theater auf dem Campus Nord der Humboldt-Universit?t zu Berlin zu sehen. Sie ist Teil des _matter Festivals vom Exzellenzcluster ?Matters of Activity“.
Autorin:?Isabel Fannrich-Lautenschl?ger
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