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Für einen starken Sozialstaat und Solidarit?t durch Vielfalt

Das Sommerthema 2019 widmet sich der Frage "Wie wollen wir zusammen leben?" Wir stellen Forscherinnen und Forscher vor, führen Interviews und suchen Antworten aus ganz unterschiedlichen Perspektiven, u.a. soziologisch, ethnologisch, wirtschaftswissenschaftlich und naturwissenschaftlich. In Folge 3 sieht der ?konom Prof. Marcel Fratzscher (Ph.D.) Reformbedarf in Deutschland – aber keinen Anlass zum Systemwechsel.

Marcel Fratzscher
Der Makro?konom Prof. (Ph.D.) Marcel Fratzscher
Foto: Florian Schuh/DIW

Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer, zog heftige, teils unfl?tige Reaktionen nach sich: Im Mai ?u?erte sich Juso-Chef Kevin Kühnert in der ZEIT zur gegenw?rtigen Wirtschaftsordnung, zog ?nderungen in Betracht. Die Vergesellschaftung von Unternehmen wie BMW k?nne er sich durchaus vorstellen, Profite müssten demokratisch verteilt werden, so der Politiker. Der Aufschrei lie? nicht lang auf sich warten. Im Gegensatz zu vielen Kritikern zeigt Marcel Fratzscher von der Humboldt-Universit?t Verst?ndnis für Kühnerts Gedankenspiele. Diese, so der Professor für Makro?konomie und Leiter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), tr?fen einen Nerv und seien als Reaktion darauf zu verstehen, dass gegenw?rtig nicht alles so laufe, wie im Modell der sozialen Marktwirtschaft vorgesehen. Dennoch glaubt der ?konom, dass das deutsche System prinzipiell das richtige ist. ?Ich bin fest überzeugt, wir brauchen kein anderes Modell“, sagt der Wirtschaftswissenschaftler im Interview.

Fairer Wettbewerb – zur Zeit nicht immer

?Man muss sehen, dass sich die soziale Marktwirtschaft als Erfolgsmodell erwiesen hat,“ erl?utert Fratzscher seine Position. ?Es gibt kaum ein Land, das einen solchen Neuanfang gebraucht und umgesetzt hat. Nicht zu Unrecht spricht man von einem Wirtschaftswunder, denn Deutschland hat sich nach dem zweiten Weltkrieg sehr schnell erholt.“ Als Voraussetzung dieses Erfolges sieht der ?konom den im Modell der sozialen Marktwirtschaft transpirierenden Gesellschaftsvertrag, der auf das Gemeinwohl zielt. ?Das Problem ist meiner Meinung nach also nicht, dass wir das falsche Modell h?tten, sondern dass das System gegenw?rtig nicht mehr ausreichend funktioniert“ – denn von Marktwirtschaft, so der Professor, sei eigentlich nur zu sprechen, wenn es einen fairen Wettbewerb gebe. Dies sei gegenw?rtig nicht immer der Fall.

Mindestlohn war ein erster Schritt

?Ein Aspekt betrifft gro?e Unternehmen wie Ikea, Apple und Amazon, die kaum Steuern zahlen. Gegen so etwas hat der kleine Buchladen um die Ecke quasi keine Chance.“ Auch dass der Niedriglohnsektor in den vergangenen Jahren stark angewachsen ist, sieht er mit Sorge: Mehr als jeder fünfte Deutsche in Vollzeitbesch?ftigung verdient mittlerweile weniger als 2000 Euro brutto. ?In Deutschland arbeiten etwa doppelt so viele Menschen im Niedriglohnsektor wie in Frankreich oder Skandinavien. Das sind Menschen, die gute Arbeit machen, aber am Ende nur einen geringen Anteil davon bekommen, was sie erwirtschaften,“ kritisiert der ?konom. Mit der Einführung des Mindestlohns habe man erste Schritte unternommen, um niedrige L?hne zumindest zu stabilisieren. ?Im ?brigen hat diese Ma?nahme so gut wie keine Arbeitspl?tze gekostet,“ so der Wissenschaftler.

Keine Chancengleichheit

?Aufgabe des Sozialstaates ist es, Menschen die Chance zu geben, ein selbstbestimmtes Leben zu führen,“ ist Marcel Fratzscher überzeugt. Daher müsse sich die Politik für mehr Chancengleichheit einsetzen. ?Wir haben in Deutschland eine zu geringe Bildungsmobilit?t: Was der Einzelne und die Einzelne erreichen k?nnen, h?ngt bislang in ungew?hnlich starkem Ma?e von Einkommen und Bildungsgrad der Eltern ab.“ Auch das Geschlecht und die Abstammung spielten eine Rolle in Hinblick auf Aufstiegschancen, befeuerten das Empfinden, dass es in Deutschland nicht gerecht zugehe. Neben der Benachteiligung von Frauen, Migranten und Alleinerziehenden sei zunehmend auch ein Nord-Süd- und ein Stadt-Land-Gef?lle zu beobachten. ?Chancen h?ngen immer mehr davon ab, wo Sie in Deutschland leben. Da wird die Lebensleistung vieler nicht ausreichend anerkannt.“ Um hier Abhilfe zu schaffen, pl?diert Fratzscher für politische Interventionen, die Klimaschutz, Datensicherheit und Integration st?rker in den Blick nehmen. Zur St?rkung sozialer Aspekte seien die Einführung eines solidarischen Grundeinkommens und die Umgestaltung sozialer Leistungen zu erw?gen, sagt der Forscher. ?Wir brauchen eine F?rderungs- und nicht eine Bestrafungskultur.“

Europa st?rken

Auch spricht sich der ?konom für eine St?rkung Europas aus. ?Heute ist die Welt viel pluraler als etwa in den 1970er oder 1980er Jahren. Es gibt viele verschiedene Lebensmodelle. Auf diese Ver?nderungen hat die Politik aber bislang nicht ausreichend reagiert,“ kritisiert Fratzscher. Die L?sung sieht der Wirtschaftsexperte in der St?rkung europ?ischer Institutionen. Hintergrund sei, dass eine national ausgerichtete Politik wenig Aussicht darauf habe, sich in einem globalisierten Markt Geh?r zu verschaffen. ?Wir brauchen Subsidiarit?t. Handel, Klimafragen und Geldpolitik müssen wir auf europ?ischer, nicht auf nationaler Ebene angehen.“ Gegenw?rtige nationalistische Tendenzen in Europa sehe er kritisch, so Fratzscher. ?Wir k?nnen nationale Interessen nur wahren, wenn wir in Europa mit geeinter Stimme sprechen. Erreichen müssen wir Solidarit?t durch Vielfalt.“

Autorin: Nora Lessing

Sommerthema 2019: Wie wollen wir zusammen leben?

Folge 1 mit der Ethnologin Prof. Dr. Silvy Chakalakkal: "Ich gehe davon aus, dass Zeit nicht einfach da ist."

Folge 2 mit dem Soziologen Prof. Dr. Steffen Mau: Erkundungen in der ostdeutschen Heimat