Susanne Schreiber forscht zu Nervensystem und Temperatur
Foto: Matthias Heyde
Denken bei Hitze und K?lte
?Wir denken durchaus, dass Temperaturschwankungen im Gehirn bei S?ugetieren bis hin zum Menschen relevant sind“, sagt die theoretische Neurowissenschaftlerin. So gibt es beispielsweise Epilepsien, bei denen die Temperatur eine Rolle spielt: Fieberkr?mpfe bei Kindern oder Hei?wasserepilepsien, die bei manchen Menschen auftreten, wenn sie zu hei? baden oder anders den Kopf erw?rmen.
Wie beim gemeinsamen Applaudieren
Im mathematischen Modell untersuchte die Wissenschaftlerin mit ihrer Arbeitsgruppe die Temperaturabh?ngig-keit der elektrischen Aktivit?t von Nervenzellen und entdeckte einen kritischen Punkt, an dem sich die Dynamik der Nervenzellen radikal umstellt. Ab einer bestimmten Temperatur tendieren Zellen dann st?rker dazu, ihre Aktivit?t an Nachbarneurone anzupassen und zu ?synchronisieren“, wie wenn ein Publikum beim Applaus auf einmal einen gemeinsamen Rhythmus findet. Eine solche synchrone neuronale Aktivit?t ist charakteristisch für Epilepsien. ?Die temperaturabh?ngige Synchronisation k?nnte dazu beitragen, einen epileptischen Anfall auszul?sen.“
Bei Fieber oder einem hei?en Bad sind die Temperaturver?nderungen im Gehirn nicht sehr gro?. Umso erstaunlicher ist, dass sie einen epileptischen Anfall hervorrufen k?nnen. ?Um wirklich zu verstehen, wann kleinste Ver?nderungen eine so gro?e Wirkung entfalten k?nnen, hilft es, wenn man die Frage von der Theorie her angeht“, sagt die Forscherin. Es bleibt aber nicht beim mathematischen Modell. In Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern an der Berliner Charité soll die Theorie auch experimentell überprüft werden.
Susanne Schreiber, die ihr Faible für Mathematik in der Schule entdeckt hat, studierte Biophysik an der Humboldt-Universit?t und forschte für ihre Diplomarbeit an der britischen University of Cambridge. Ihre Doktorarbeit absolvierte sie zum Teil in den USA und an der HU. Sie ist Tr?gerin des Bernstein-Preises für Computational Neuroscience, der es ihr erm?glichte, eine eigene Arbeitsgruppe am Institut für Biologie der HU aufzubauen. Ihre aktuelle Forschung zur Temperatur wird durch ein Programm des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) gef?rdert.
Computational Neuroscience befasst sich mit der Entwicklung mathematischer Modelle neuronaler Prozesse. Erst dadurch wird es m?glich, quantitative Fragen zu stellen und zu überprüfen. Wie lange braucht ein neuronales Signal? Wie wirkt sich eine molekulare Ver?nderung auf eine Nervenzelle oder gar ein ganzes neuronales Netzwerk aus? Das Nervensystem ist so komplex, dass sich solche Vorhersagen nicht einfach mit Papier und Bleistift treffen lassen – dazu braucht man Computermodelle.
Interdisziplin?r lohnt sich
Diese sollten die biologische Realit?t m?glichst gut abbilden. Daher arbeitet Susanne Schreiber eng mit experimentellen Neurowissenschaftlern aus sehr unterschiedlichen Bereichen zusammen. Solche interdisziplin?ren Projekte sind anspruchsvoll und dauern lange, denn es sind viele Wissenschaftler aus unter-schiedlichen Fachkulturen involviert. ?Man muss sich gut verstehen und eine ?hnliche Denkweise haben, damit es funktioniert“, erkl?rt sie. Aber es lohnt sich. ?Es ist viel wertvoller und spannender, wenn man nicht nur einen theoretischen Effekt hat, sondern ihn auch experimentell überprüft.“
Grashüpfer mit S?ugetiere vergleichen
Um mehr über Temperaturschwankungen im Gehirn zu erfahren, befasst sie sich in ihrer Forschung nicht nur mit S?ugern, sondern auch mit Insekten, genauer gesagt mit Grashüpfern. W?hrend die Temperatur im Gehirn von S?ugetieren nur wenig variiert, haben es wechselwarme Tiere wie Grashüpfer mit viel gr??eren Schwankungen zu tun. Das Nervensystem ist ein hochkomplexes Netzwerk von perfekt aufeinander abgestimmten Zellen. Man kann sich gut vorstellen, dass kleine ?nderungen der Aktivit?t einzelner Zellen das ganze System durcheinanderbringen k?nnen. ?Die Evolution hat aber Nervensysteme hervorgebracht, die trotz Schwankungen in der Temperatur robust funktionieren. Ich finde gerade diese Kombination von Funktion und evolution?ren Randbedingungen spannend“, sagt Schreiber.
Grashüpfer müssen bei unterschiedlichen Temperaturen ?hnlich gut h?ren. Dies ist für die Arterhaltung enorm wichtig, denn Grashüpferweibchen w?hlen den richtigen Paarungspartner anhand der Ges?nge ihrer m?nnlichen Artgenossen aus. Rezeptorneurone, die akustische Signale in elektrische Signale umsetzen und an das Gehirn weiterleiten, k?nnen Temperaturschwankungen zum Teil ausgleichen. Diese F?higkeit hat die Arbeitsgruppe von Schreiber zusammen mit Bernhard Ronacher, Biologe und Seniorprofessor an der HU, untersucht.
Zwar laufen die Prozesse, die in Rezeptorzellen einen elektrischen Nervenimpuls ausl?sen, bei h?heren Temperaturen schneller. Gleichzeitig ver?ndert sich aber die Zelle so, dass es schwieriger wird, einen Impuls zu produzieren. Auf diese Weise heben sich temperaturabh?ngige Ver?nderungen teilweise auf. ?Es gibt sehr unterschiedliche Arten, wie eine Temperaturkompensation prinzipiell erreicht werden kann“, erkl?rt die Wissenschaftlerin. ?Die Strategie der Rezeptorneurone ist nur eine M?glichkeit von vielen.“ Eine andere M?glichkeit besteht darin, verschiedene Nervenzellen im Netzwerk so geschickt zu kombinieren, dass sich ihre Temperaturabh?ngigkeiten ausgleichen. Auch diese Strategie scheint nach Schreibers Erkenntnissen im H?rsystem der Grashüpfer eine Rolle zu spielen.
?Warum ist das so und nicht anders?“
Ob es sich nun um Grashüpfer oder Fieberkr?mpfe handelt, die Forscherin zeichnet aus, dass sie genauer hinschaut und Dinge hinterfragt, die andere vielleicht für gegeben hinnehmen: Warum ist das so? Kann es nicht anders sein? Dabei kommt ihr zugute, dass sie sich mit sehr unterschiedlichen Tieren befasst. ?Die verschiedenen Bereiche meiner Arbeit befruchten sich gegenseitig“, sagt sie. Wenn sie in ihren Arbeiten mit Insekten etwas beobachtet, was in S?ugern anders ist, hinterfragt sie den Grund. Es sind oft diese grundlegenden Beobachtungen, die Art, nichts für selbstverst?ndlich zu nehmen, welche ihrer Forschung Originalit?t verleihen.
Theorie und Experiment
Will man das Nervensystem in seiner ganzen Komplexit?t verstehen, müssen Theorie und Experiment Hand in Hand gehen. Dazu bietet das Bernstein Zentrum Berlin, wo Susanne Schreiber von Anfang an mit von der Partie war, die besten Voraussetzungen. Das Zentrum geht auf eine F?rderinitiative des BMBF zurück. Erst kürzlich haben es Charité – Universit?tsmedizin Berlin, Humboldt-Universit?t und Technische Universit?t Berlin mit einem Kooperationsvertrag verstetigt, so dass die über Jahre aufgebauten Strukturen langfristig erhalten bleiben. Um den Forschungsbereich Computational Neuroscience an der HU fest zu verankern und das Bernstein Zentrum zu unterstützen, wurde Ende 2016 das ?Interdisziplin?re Zentrum Computational Neuroscience eingerichtet.