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Der Humboldt-Preis für gute Lehre 2009 – und seine Folgen

Preistr?ger Roland Berbig über den Einsatz seines Preisgeldes

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Als der Schriftsteller Uwe Johnson 1971 den Georg Büchner-Preis der Darmst?dter Akademie für Sprache und Dichtung erhielt, sah er sich mit seiner Dankrede in der Pflicht, ?zu beschreiben, wofür er den gr??eren Teil dieses Geldes angelegt hat, […]“. Nun bestehen zwischen dem bedeutendsten deutschen Literaturpreis und dem eher randst?ndigen Lehrpreis unserer Universit?t keine ernstlichen Verbindungen – sieht man einmal davon ab, dass Johnson damals so viel DM auf die Hand bekam wie der Lehrpreistr?ger 2009 Euro … Indes: Die Tugend der Rechenschaftslegung, die Johnson damals zur Irritation des Festpublikums pflegte, scheint nachstrebenswert. Das Preisgeld, so will es die feine Umsicht der Auslobenden, darf auf den Kopf nur mit denen geklopft werden, die Anfang und Ende und Adressat aller Lehre sind: die Studierenden.


Damals, 2009, befragt, was ich denn mit dem Geldschatz beginnen wolle, lag ein sehr anregendes Erlebnis hinter mir – man hatte in Lübeck den fünfzigsten Geburtstag von Blechtrommler Oskar Matzerath gefeiert und sein Sch?pfer, Schriftsteller und Nobelpreistr?ger Günter Grass, auf eine ?berlegung von mir nicht den Kopf geschüttelt. Ich hatte gesehen, dass sich in Lübecker und Berliner Archiven viel unerschlossenes Material von ihm befindet, und ich war neugierig nicht auf die breiten, ausgetretenen Wege, sondern auf die wenig begangenen.

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?Kommen Sie am besten her, mit ein paar jungen Leuten, dann sehen wir, was das ergibt.“ Damit war das Startsignal gegeben. Ein angemessener Kreis musste sich aber erst einmal finden. Wo über mühselig zu sammelnde Studienpunkte gest?hnt wurde, unzumutbare Lehrpl?ne beklagten und Zeitmangel als Dauerleid erlitten wurde, lockte ich gewisserma?en mit Dichtergespr?ch und Archivbohrung. Darüber hinaus hatte ich mir in den Kopf gesetzt, die studentische Gruppe handverlesen zu ?mischen’. Sie sollte nicht aus einem Seminar erwachsen, sondern sich aus Studierenden unterschiedlicher Ausbildungsphasen rekrutieren: von Doktoranden über Magister- und Masterstudierende bis hin zu Studenten, die noch nicht ihren Bachelor in der Tasche haben. Testen wollte ich, ob das ging, was für eine Universit?t unerl?sslich ist: gemeinsame Lehrforschung aus einer solchen Bildungsdifferenz heraus. Erlauben die Studienreformen der letzten Jahre noch solche Projekte? Ich gefiel mir nicht in meinem Miesgram angesichts der missglückten Reformierung, von der zu viel gesprochen und gegen die zu wenig unternommen wird.


Das Vorhaben hisste nach ein, zwei intensiven Beratungen seine Projektflagge ?Abgelegtes und Abgelegenes: Günter Grass – 1990 bis 2010“. Bald wurden erste Rechnungen f?llig – Bahnfahrten, Pensionsübernachtungen, Kopierkosten. Ein Foto vorm Günter Grass-Haus in der Lübecker Glockengie?erstra?e 21 mit dem Autor von Grimms W?rter hat den exklusiven Moment festgehalten, der das Zeug zu einem wirkungsm?chtigen Happyend hatte, aber nur Auftakt war. Am Ende des gemeinsamen Jahres standen eine Tagung, überraschende Grass-Bekanntschaften und –Orte und demn?chst eine Publikation im Rahmen der Berliner Hefte zur Geschichte des literarischen Lebens (die aktuelle Ausgabe 9/2010, auch mit Studierenden zustande gekommen, ist der in diesem ihr 90. Lebensjahr vollendenden Schriftstellerin Ilse Aichinger gewidmet).


Glückliche Umst?nde fügten ein zweites Projekt zusammen. Wieder waren ein Günter im Spiel und wieder unbekannte Briefe, Karten, Fotografien. Der durch sein Gedicht ?Inventur“ berühmt gewordene Günter Eich sa? in der Dachstube eines niederbayrischen Dorfes, als ihm die Ideen zu H?rspielen kamen, die einzigartige Wirkung erzielten (Tr?ume, Die M?dchen aus Viterbo oder Das Jahr Lazertis). Familie Schmied, die ihn nach dem Krieg aufgenommen hatte, war ihm gut und er ihnen. ?ber ein Leben lang. Sie hat alles aufbewahrt, was mit Eich und seiner Frau Ilse Aichinger zusammenhing. Hier, in Geisenhausen, tastete sich Eich durch die Nachkriegsjahre, so streng wie kunstkonzentriert, und hier lernte er neu leben.

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Um die vielen unver?ffentlichten Zeugnisse zu erschlie?en, Gespr?che zu führen und einem entstehenden Buch das n?tige Wissen zu geben, war Geld n?tig: der Lehrpreis hat es erm?glicht. Geisenhausen wie das Deutsche Literaturarchiv in Marbach wurden Anlaufstellen für studentische Exkursionen, Au?enstellen gewisserma?en der heimischen Universit?t. Für den Herbst ist ein nochmaliger Ausflug vor Ort geplant. H?lt, was aufs Papier gekommen ist und gedruckt werden soll, der wachen Prüfung durch die Zeitzeugen stand? Ist die Wissenschaft mit dem ihr anvertrauten Wissen gewissenhaft umgegangen? Fragen von Gewicht, so alliterierend wie alternativlos, ohne Hintertür und doppelten Boden.


Endlich griff ich noch einmal in den Preisgeld-Topf, um etwas zu bef?rdern, was Tradition hat und Gegenwart wie Zukunft verdient: Dichterlesungen im akademischen Raum. ?Erz?hlen heute“ hie? das Seminar, das all freit?glich Autorinnen und Autoren einlud, um sich aus deren entstehenden Büchern vorlesen zu lassen.

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Johannes Jansen stellte eine Lesung im mp3-Format vor, Uljana Wolf las und kommentierte ihre englisch-deutschen Schreiberfahrungen, Jan B?ttcher pr?sentierte ein Kapitel aus dem im Herbst erscheinenden Roman, ebenso Annett Gr?schner, deren neues Buch ?Walpurgistag“ hei?en wird. Judith Schalansky – ihr Atlas der abgelegenen Inseln liegt nicht nur in mehreren Auflagen, sondern auch in zahlreichen ?bersetzungen (u. a. in Taiwan!) vor – demonstrierte, zu welchem faszinierenden Bündnis Erz?hl- und Buchkunst in der Lage sind, jenseits allen Marktmurrens der Verlage. Zum Abschluss stellt sich Florian Havemann, Sohn des Naturwissenschaftlers, Kommunisten und Dissidenten Robert Havemann und Verfasser eines 1092seitigen, heftig umstrittenen Buches mit dem Titel Havemann (2007), der erfrischend aufgeschlossenen Seminarrunde.


Am Schluss seiner Büchnerpreis-Rede stellte Uwe Johnson vor 30 Jahren Danksagungen. Nicht anders hier: Ich danke noch einmal jenen freundlichen Menschen, die mich für den Preis vorschlugen, der Kommission, die ihn mir verlieh, jenen auch, die von Berufs wegen ?mitgerechnet haben“, und vor allem aber den Studierenden, die meine Freude beim guten Geldanlegen geteilt haben – und beim verbliebenen Rest teilen werden.

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Roland Berbig

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WEITERE INFORMATIONEN

Prof. Dr. phil. Roland Berbig
Philosophische Fakult?t II
Institut für deutsche Literatur
Universit?tsgeb?ude am Hegelplatz
Dorotheenstra?e 24
10117 Berlin

E-Mail: roland.berbig@rz.hu-berlin.de
Telefon: (030)2093-9654