Mehr Zeit für die Zeit
HU-Pr?sident Jan-Hendrik Olbertz
Foto: Matthias Heyde
Unsere moderne Gesellschaft wird oft über ihr Zeitverst?ndnis beschrieben, das von Beschleunigung und Geschwindigkeit gepr?gt ist. Gerade im Wissenschaftssystem kann man das beobachten – es gibt ?Laufzeiten“ von Forschungsvorhaben, ?Regelstudienzeiten“ für Studierende, ?Sitzungsperioden“ von Gremien und ?Fristen“ für die Abgabe von Berichten. Der allgegenw?rtige Termindruck führt dazu, dass wir Zeit verdichten, also immer mehr Dinge gleichzeitig tun.
Gemessen am individuellen Lebensverlauf, aber schon an definierten Zeiteinheiten wie ?Tag“ oder ?Nacht“, erweist sich Zeit als stets begrenzt, obwohl sie an sich ein unersch?pfliches Reservoire ist. Auch an der Universit?t gilt Zeit als knappes Gut. Gerade Wissenschaft braucht Zeit, zum Beispiel zum Nachdenken. Jede(r) wei?, wie schwer das unter Zeitdruck f?llt. Denn das Suchen nach Einsicht kennt keinen Kalender, es folgt anderen Gesetzen, die vor allem Konzentration und Ruhe hei?en. Dem stehen Regelungsdichte und Organisationsaufwand des heutigen Wissenschaftsalltages entgegen. Auch ausufernde bürokratische Prozesse verschlingen Zeit, ebenso wie Gremiendebatten, wenn sie sich von der strittigen Sache entfernen und nur den Geltungsbedürfnissen der Beteiligten dienen.
?Zeit ist Geld“, hei?t es – bedauerlicherweise – inzwischen auch in der Wissenschaft. Das gilt vor allem, seit es wettbewerbliche Drittmittelforschung gibt. Der Steuerungsaufwand, der mit Exzellenzclustern, Sonderforschungsbereichen, DFG-Forschergruppen, Graduiertenschulen usw. einhergeht, braucht in Gr??enordnungen Zeit, die für origin?re Forschung am Ende fehlt. Deshalb fordern die 金贝棋牌n zu Recht, dass ihre Grundfinanzierung erh?ht wird. Das freie Spiel der Kr?fte im Wettbewerb dient der Qualit?tssicherung, aber es kann die politische Gestaltung einer ausgewogenen und leistungsf?higen Wissenschafts- bzw. Hochschullandschaft nicht ersetzen. Dies ist eine der Schlussfolgerungen aus der 2017 auslaufenden Exzellenzinitiative, über deren Fortschreibung derzeit kontrovers diskutiert wird.
Neben ihren erfreulichen Effekten, vor allem der produktiven Dynamik, die sie in die Universit?ten getragen hat, müssen für eine Neuauflage der Initiative rechtzeitig Risiken und Nebenwirkungen bedacht werden. Dazu geh?ren u. a. die ??berhitzung“ des Systems, die zu hohe Taktfrequenz von Antragstellungen, Evaluierungen und Fortsetzungsantr?gen. L?ngere Laufzeiten der F?rderung sind daher unabdingbar. Denn wenn eine wissenschaftliche Fragestellung nicht mehr vorrangig aus Neugier und Erkenntnisinteresse formuliert wird, sondern um Konformit?t mit einem kurzlebigen F?rderformat herzustellen, dann hat das Auswirkungen auf die Wissenschaft.
Exzellente Forschung braucht auch Phasen der Besinnung, der überlegten Neuorientierung. Es gibt dafür das sch?ne Wort Kontemplation: ruhige Betrachtung, Achtsamkeit sich und anderen gegenüber, kurz:? Wissenschaft um ihrer selbst willen. Kontemplation ist nicht zu verwechseln mit Mü?ig-gang, sondern verhei?t Tiefe und Gründlichkeit, Inspiration und Kreativit?t, ungest?rten Austausch.
Dieses Bedürfnis greift nicht nur unter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern um sich. Auch die Studierenden wünschen sich weniger Zeitdruck im Studium und mehr Raum für ihre Eigeninteressen. Nicht minder brauchen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Verwaltung solche Besinnungsphasen, zum Beispiel durch Sabbaticals, die es erm?glichen, neue Kr?fte zu sammeln oder den eigenen Horizont zu weiten.
Sich in eine Sache zu ?versenken“, setzt das Grundrecht voraus, auch einmal nicht erreichbar zu sein. Dazu braucht es Mut – und die F?higkeit, ?Bedeutung“ (auch die eigene) oder ?Dringlichkeit“ zu relativieren. Wo technische Hilfsmittel dafür von Nutzen sein k?nnen, wie die in der HU-Sonderbeilage in der Berliner Zeitung vom 24. Juni 2015 vorgestellte ?OFFTIME-App“, sollte man das begrü?en. Oft genug wird vergessen, dass Zeit auch Substanz hat, und zwar durch das, was wir in ihrem Verlauf tats?chlich tun. Dann k?me ?Qualit?t“ von Zeit ins Spiel.
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Die Kolumne "Mehr Zeit für die Zeit" von HU-Pr?sident Jan-Hendrik Olbertz ist am 29. Juli 2015 auf der HU-Sonderseite in der Berliner Zeitung erschienen.