Geometrie in der babylonischen Sternkunde
Bereits babylonische Astronomen berechneten die Bewegung des Jupiters entlang seiner Bahn mit geometrischen Operationen. Das zeigt eine Analyse des Wissenschaftshistorikers Prof. Dr. Mathieu Ossendrijver von der Humboldt-Universit?t zu Berlin (HU) und dem Exzellenzcluster Topoi von drei bekannten und zwei bisher unver?ffentlichten Keilschrifttafeln aus dem British Museum. Die Tafeln stammen aus der Zeit zwischen 350 und 50 v. Chr. – Wissenschaftshistoriker hatten bislang angenommen, dass geometrische Berechnungen dieser Art erstmals im 13. Jahrhundert vorgenommen wurden. Zudem war man von einer rein arithmetischen Astronomie im alten Babylon ausgegangen. ?Die Neuinterpretation zeigt, dass die babylonischen Astronomen zumindest gelegentlich auch geometrische Rechenmethoden anwandten“, sagt Mathieu Ossendrijver. Seine Ergebnisse wurden jetzt in der aktuellen Ausgabe der renommierten Fachzeitschrift Science ver?ffentlicht.
Auf vier der Tontafeln wird der Abstand, den Jupiter am Himmel entlang seiner Bahn zurücklegt, als Fl?che einer Figur berechnet, die den Geschwindigkeitsverlauf des Planeten in der Zeit darstellt. Keine der Tafeln enthalte Zeichnungen, aber aus den Texten gehe hervor, dass die Figur, deren Fl?che berechnet wird, ein Trapez sei, erkl?rt Mathieu Ossendrijver. Zwei dieser sogenannten Trapez-Texte waren schon seit 1955 bekannt, aber ihre Bedeutung blieb unklar – auch noch, nachdem in den vergangenen Jahren zwei weitere Tafeln mit dieser Operation entdeckt wurden.
Berechnung kann eindeutig dem Planeten Jupiter zugeordnet werden
Eine Ursache dafür war der schlechte Zustand der drei bis fünf Zentimeter gro?en Tafeln, die Ende des 19. Jahrhunderts von Laien in Babylon nahe dem Haupttempel Esagila ausgegraben worden waren. Ein weiterer Grund war, dass die Berechnungen keinem Planeten zugeordnet werden konnten. Die Neuinterpretation der Trapez-Texte wurde nun durch den Fund einer fünften, nahezu intakten, bisher unpublizierten Keilschrifttafel m?glich. Den Hinweis auf die Tafel im British Museum verdankt Mathieu Ossendrijver seinem Wiener Kollegen, dem emeritierten Professor für Altorientalistik Hermann Hunger, der 2014 als Gastwissenschaftler am Exzellenzcluster Topoi forschte. Er überlie? ihm eine alte Aufnahme der Tafel im British Museum.
Die Skizze rechts visualisiert die Berechnung:? Die Distanz, die Jupiter
in 60 Tagen zurücklegt, 10?45', wird berechnet als die Fl?che der
Trapez-Figur. Um die Zeit (tc) zu berechnen, in der Jupiter die
H?lfte dieser Distanz zurücklegt, wird das Trapez dann in zwei
kleinere Trapeze mit gleicher Fl?che geteilt.
Foto und Illustration: Mathieu Ossendrijver (HU)
Diese neue Tafel erw?hnt zwar keine Trapezfigur, enth?lt aber eine mathematisch v?llig ?quivalente Berechnung zu den bereits bekannten Tafeln und die Berechnung kann eindeutig dem Planeten Jupiter zugeordnet werden. Und so lie?en sich auch die bisher als undeutbar geltenden Tafeln entschlüsseln.
Auf allen fünf Keilschrifttafeln wird die t?gliche Positionsver?nderung des Jupiters entlang seiner Bahn insgesamt beschrieben. Die Ma?einheit ist Grad; gemessen wird ein Zeitraum, der die ersten 60 Tage umfasst, nachdem Jupiter als Morgenstern am Himmel sichtbar geworden ist. ?Die zentrale Erkenntnis der neuen Keilschrifttafel ohne geometrische Figur sei, dass Jupiters Geschwindigkeit innerhalb dieser 60 Tage linear abnehme, erkl?rt Mathieu Ossendrijver. Durch diese lineare Abnahme entstehe eine trapezf?rmige Figur, wenn man die Geschwindigkeit gegen die Zeit auftrage.
Europ?ische Gelehrte haben ?hnliche Techniken benutzt
Es sei diese Trapezfigur, deren Fl?che auf den anderen vier Tafeln berechnet werde, sagt der Wissenschaftshistoriker. Die Fl?che dieser Figur werde explizit als Distanz bezeichnet, die Jupiter in 60 Tagen zurücklege. Au?erdem werde die Zeit, in der Jupiter die H?lfte dieser Wegstrecke zurücklegt, ausgerechnet, indem das Trapez in zwei kleinere Trapeze zerlegt werde, die? jeweils eine gleichgro?en Fl?che haben.
?Diese Berechnungen antizipieren die Nutzung ?hnlicher Techniken durch europ?ische Gelehrte; sie wurden jedoch mindestens vierzehn Jahrhunderte früher durchgeführt“, sagt Ossendrijver. Den sogenannten Oxford Calculators, einer Gruppe scholastischer Mathematiker, die im 14. Jahrhundert am Merton College in Oxford arbeiteten, wird das sogenannte ?Merton'sche Theorem für die mittlere Geschwindigkeit“ zugeschrieben. Dieses Theorem beschreibt die Distanz, die ein gleichf?rmig gebremster K?rper zurücklegt, entsprechend der modernen Formel S=t?(u+v)/2, wobei u und v die Anfangs- und die Endgeschwindigkeit sind, S die Strecke und t die Zeit.
Trapezfiguren existieren in einem abstrakten mathematischen Raum
Im gleichen Jahrhundert entdeckte Nicole Oresme, Bischof, scholastischer Philosoph und Mathmatiker in Paris, graphische Methoden, um diese Formel zu beweisen: Er berechnete S als die Fl?che eines Trapezes mit der L?nge t und den H?hen u und v. Die babylonischen Trapezberechnungen k?nnten, so Ossendrijver, als Beispiele der gleichen Vorgehensweise gesehen werden.
Bislang war zudem angenommen worden, dass die Astronomen im antiken Babylon nur arithmetische Methoden verwandten, sie sich keine geometrischen Methoden aneigneten, obwohl diese in der babylonischen Mathematik seit 1800 v. Chr. gel?ufig waren. Auch griechische Astronomen in der Zeit von 350 v. Chr. bis 150 n. Chr. waren für den Einsatz geometrischer Methoden bekannt. Die babylonischen Trapezberechnungen unterscheiden sich allerdings von den geometrischen Berechnungen ihrer griechischen Fachkollegen, da die babylonischen Trapezfiguren keine Konfigurationen in einem realen Raum beschreiben, sondern dadurch zustande kommen, dass man die Geschwindigkeit des Planeten gegen die Zeit auftr?gt. Im Gegensatz zu den geometrischen Konstruktionen der griechischen Astronomen existieren die babylonischen Trapezfiguren in einem abstrakten mathematischen Raum, definiert durch Zeit auf der x-Achse und Geschwindigkeit auf der y-Achse.
Publikation
Mathieu Ossendrijver: ?Ancient Babylonian astronomers calculated Jupiter’s position from the area under a time-velocity graph“, in: Science, 29. Januar 2016.
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Foto für die Presse
Pressemitteilung: Rechenkünste der sp?tbabylonischen Mathematik
Pressekontakte
Ibou Diop
Pressereferent
Humboldt-Universit?t zu Berlin
Tel.: 030 2093-2945
ibou.diop.1@hu-berlin.de
Dr. Nina Diezemann
Exzellenzcluster Topoi
Tel.: 030 838-73190
nina.diezemann@topoi.org