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?Stadtentwicklung gelingt nur, wenn es Mitbestimmung gibt“

In unserer Serie ?Stadt im Wandel“ widmen wir uns Visionen und Herausforderungen der Metropolen der Zukunft. In Teil zwei spricht der Stadt- und Regionalsoziologe Andrej Holm über Probleme der Verst?dterung - und über die Zukunft von Gro?st?dten wie Berlin

Stadtwohnungen in Berlin

Stadtwohnungen in Berlin: Die Preise steigen, die Konkurrenz nimmt immer mehr zu.
Abb: Stockartfoto/Colourbox.de

Herr Holm, der Prozess der Verst?dterung ist ein weltweites Ph?nomen. Schon jetzt leben weltweit mehr Menschen in St?dten als auf dem Land. Was sind die Ursachen?

Andrej Holm: Was die Menschen antreibt, ist die Hoffnung auf ein besseres Leben. St?dte bieten Arbeitspl?tze und damit ein Einkommen. Migrieren Menschen wegen Krieg und Verfolgung, so kommen sie in die St?dte. Für andere Menschen ist schlicht der st?dtische Lebensstil anziehend, der viele menschliche Interessen befriedigt wie 金贝棋牌e, Austausch, Kulturerfahrung, Konsum usw. Die Stadt wird dabei zu einem Universum der Unterschiedlichkeiten und zum Ort, die eigenen Tr?ume zu verwirklichen.

Wie ist die Situation in Deutschland?

Auch in Deutschland erleben St?dte gerade ein Revival. Insbesondere Gro?st?dte wie München, Frankfurt, Berlin oder Hamburg verbuchen stark steigende Einwohnerzahlen. Noch in den 70er Jahren war für viele ein H?uschen auf dem Land oder im suburbanen Raum ein Lebenstraum.

Mit dem Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft ist das Leben in der Stadt attraktiver geworden. Neue Formen der Produktion, des Handels und des Konsums haben zusammen mit der Digitalisierung und Automatisierung neue Arbeitsfelder und -formen hervorgebracht. Sie wiederum setzen beim Arbeitnehmer eine schnelle Verfügbarkeit und Mobilit?t voraus. Das kann die Stadt mit der guten Verkehrsinfrastruktur leisten. Die postindustrielle Welt indiziert quasi ein stadtnahes Wohnen.

Welche Herausforderungen bringt die Verst?dterung mit sich?

Migration und demografische Prozesse haben Auswirkungen auf die gesamte Infrastruktur einer Stadt: Zuallererst auf den Wohnungsmarkt, dann den Verkehr, die Wasserversorgung, die Grünfl?chen- und Abfallbewirtschaftung und die Bildung. Aus einer soziologischen Perspektive interessant sind aber die damit verbundenen Prozesse des Zusammenlebens.

Aber Zuzug bedeutet auch immer einen Innovationsschub. Wenn mehr Menschen zu versorgen sind, muss nicht nur die Infrastruktur ausgebaut werden, sondern es sind auch neue Regeln und Formen dafür zu finden, wie unterschiedliche Interessen zusammengehalten werden k?nnen. Da die st?dtischen Ressourcen endlich sind - auch die finanziellen – müssen sie neu verteilt werden. Dass es dabei zu Konflikten kommt ist nicht verwunderlich. Aber gerade solche Konflikte um knappe Ressourcen sind es oft, die effizientere und innovative L?sungen hervorbringen.

Berlin w?chst und w?chst, Wohnungen sind knapp und teuer.

In der Tat. Momentan steht der Senat ohnm?chtig vor der Frage, wie man mehr Wohnraum schafft. Das rechnerische Defizit betr?gt schon jetzt über 100.000 Wohnungen. Die Wohnversorgungsquote ist auf unter 95 Prozent gesunken. Besonders hart trifft es Menschen mit geringem oder gar keinem Einkommen. Die Migration nach Berlin versch?rft die Situation zus?tzlich, mittel- und langfristig werden für die Unterbringung von Geflüchteten mindestens 25.000 zus?tzliche Wohnungen ben?tigt.

Was müsste passieren, um die Situation zu entsch?rfen?

Im Grunde müsste der Staat regulierend eingreifen, und zwar nicht mit einer Mietpreis- sondern Verwertungsbremse, sodass Bauland leistbar ist – und auch die ?ffentliche Hand zu vernünftigen Konditionen bauen und dann auch vermieten kann. Der Ruf nach mehr Regulation ist heutzutage politisch nicht wirklich popul?r, aber erforderlich. Wird die Stadtentwicklung den privaten Verwertungsinteressen überlassen, bleibt das Soziale notwendigerweise auf der Strecke.

Was ist aber unter den jetzigen Bedingungen machbar?

Eine soziale Stadtentwicklung setzt ?ffentliche Investitionen voraus. Bauvorhaben müssten konsequenter für preiswerten Wohnungsbau und ?ffentliche Infrastrukturen genutzt werden. In den letzten Jahren jedoch hatten vor allem private Investitionen und der Bau von Eigentumswohnungen Vorrang. Hier müssten die Voraussetzungen geschaffen werden, um vor allem nicht profitorientierten Akteuren mehr Spielraum zur Entfaltung zu geben. Das k?nnen ?ffentliche Wohnungsbaugesellschaften sein oder gemeinnützige Wohnungsunternehmen oder aber auch Formen der Selbsthilfe.

Das klingt alles sehr einleuchtend, aber Berlin ist hochverschuldet …

Das ist in der Tat ein starkes Argument, aber es ist die origin?re Aufgabe der St?dte die Lebensbedingungen ihrer Bewohnerschaft zu sichern und zu verbessern. Eine Politik die den Menschen den Vorrang vor den Kalkulationen gibt, wird sich mit der Verschuldungssituation auseinandersetzen müssen. Gerade in einer wachsenden Stadt wie Berlin sollte ein kommunales Investitionsprogramm kein Tabu sein.

Sozialwissenschaftler Dr. phil. Andrej Holm

Dr. phil Andrej Holm
Abbildung: Matthias Heyde

Gleichzeitig gibt es Proteste, wenn Fl?chen für den Wohnungsbau genutzt werden sollen, beispielsweise Teile des Tempelhofer Feldes. Eine Konkurrenzsituation der Interessen …

Wir k?nnten diese Proteste aber auch als eine Artikulation des Partizipationswillens sehen. Die Zeiten, an denen die Stadt an den Bewohnerinnen und Bewohnern vorbei geplant wurde, sind vorbei. Stadtentwicklung wird nur gelingen, wenn es echte Mitbestimmung gibt. Und auch der Kontext der Neubauprojekte spielt bei der Akzeptanz in der Nachbarschaft eine Rolle: Es ist sicher kein Zufall dass die Mehrzahl der Anti-Neubau-Initiativen sich gegen Luxuswohnprojekte richtet, in denen sich die meisten Berlinerinnen und Berliner keine Wohnung leisten k?nnte.

Wie sehen Sie das zukünftige Berlin aus Sicht des Wohnungsmarktes?

Im Status quo sehe ich eine sich weiter ausbreitende Gentrifizierung und das Risiko von Konflikten. Mit der Verdr?ngung nach Au?en riskiert man dort Zonen der Vernachl?ssigung und Ausgrenzung. Paris mit seinem reichen Zentrum und den abgeh?ngten Banlieus ist das negative Beispiel für solch eine Stadtentwicklung.

Auf der anderen Seite gibt die selbstbewusste Protestkultur in Berlin Hoffnung, dass andere Wege eingeschlagen werden k?nnen. In den letzten Jahren beobachten wir eine enorme Vervielf?ltigung von fragmentierten und lokalen Initiativen – wenn es ihnen gelingt, diese Kraft zu bündeln, werden sie auch die Stadtpolitik ver?ndern.

Was bedeutet das konkret?

Wir alle sehen, dass die Berliner sehr kreativ im Umgang mit Mangel sind – Mangel an Kapital, Wohnraum, Fl?che oder auch sinnstiftender Arbeit. Von den Hausbesetzungen über die Clubszene bis hin zu den Projekten des Urban Gardenings und den vielen Baugruppen hat sich eine Tradition des Selbstgestaltens entwickelt. Diese F?higkeit zur Selbstorganisation ist auch ein Potential für neue L?sungen im Wohnen und fürs Zusammenleben. Die parteiunabh?ngigen Kampagnen für die Kommunalisierung der Energieversorgung, den Mietenvolksentscheid und den zur Zeit laufende Volksentscheid zur Fahrradstadt Berlin zeigen, dass die Initiativen nicht nur ?Nein“ sagen, sondern eine eigene und sinnvolle Agenda formulieren k?nnen. Mit Blick auf die vielen Proteste, Initiativen und Projekte l?sst sich sagen: Die Stadt von morgen ist schon da.

Das Gespr?ch führte Christin Bargel, Pressereferentin der HU

Zur Person

Dr. phil. Andrej Holm ist Sozialwissenschaftler und arbeitet am Arbeitsbereich für Stadt- und Regionalsoziologie der Humboldt-Universit?t zu Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Gentrifikation, Wohnungspolitik im internationalen Vergleich und Europ?ische Stadtpolitik. Neben seiner Lehr- und Forschungst?tigkeit erstellt Andrej Holm zu diesem 金贝棋牌kreis Gutachten und Studien für verschiedene Auftraggeber. 2005 promovierte er zur Restrukturierung des Raumes und gesellschaftliche Macht im Sanierungsgebiet.

Für Fragen über Macht- und Besitzverh?ltnisse, Gerechtigkeit und Teilhabe hat sich Andrej Holm schon früh interessiert; eine wissenschaftliche Karriere, so sagt er, sei aber nicht geplant gewesen. Sein Interesse und seine eigenen Erfahrungen in der Hausbesetzerszene und Mieterbewegung Ostberlins haben ihn quasi zum Studiumschwerpunkt der Stadtsoziologie gebracht. Insofern sei das Studium für ihn eine Einsch?tzung- und Einordnungshilfe des selbst Erlebten gewesen, so Holm.

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