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Die Welt gerechter machen

Die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer gr??er. Wie l?sst sich mehr Gleichheit verwirklichen? Philosophieprofessorin Kirsten Meyer und Philosophieprofessor Gabriel Wollner (beide von der Humboldt-Universit?t) machen sich dazu Gedanken.

Leben in Armut
Leben in Armut. Milliarden Menschen leben
weltweit in prek?ren Verh?ltnissen – w?hrend
einige wenige Reichtümer ansammeln.
So besitzen die 62 reichstenMenschen genauso
viel wie die H?lfte der Menschheit.
Abbildung: colourbox.de

Am Anfang ein Gedankenexperiment. Stellen Sie sich vor, Sie k?nnten sich in einen geistigen Zustand vor Ihrer Geburt versetzen. Wie würden Sie die Welt gestalten, in der Sie leben wollen? Allerdings wüssten Sie nicht, ob Sie in eine durchschnittliche deutsche oder in eine vom Krieg betroffene syrische Familie hineingeboren werden. John Rawls (1921 – 2002), Autor des modernen Klassikers ?A Theory of Justice“ und ?Vater“ des Gedankens, war sich sicher: Jeder würde wahrscheinlich eine Welt erschaffen wollen, in der gr??tm?gliche Freiheit und Gleichheit herrschen. Zu gro? w?re sonst das Risiko, in eine Position hineingeboren zu werden, in der man materiell und immateriell benachteiligt ist.

Laut der Organisation Oxfam besitzen die 62 reichsten Menschen der Welt genau so viel wie die H?lfte der Weltbev?lkerung – also etwa 3,5 Milliarden Menschen. Seit einigen Jahren wird die wachsende Einkommens- und Verm?gensungleichheit auch in Deutschland intensiv diskutiert. ?Besitz ist innerhalb von Staaten heute beinahe wieder so ungleich verteilt, wie es vor dem Ersten Weltkrieg der Fall war“, sagt Gabriel Wollner. ?Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Verm?gen gr??tenteils vernichtet, die Ausgangssituation war egalit?rer, in den 50er, 60er und 70er Jahren erlebte Deutschland, aber auch Frankreich, England und die USA, eine Zeit abnehmender Ungleichheit.“ Ende der 70er fing die Schere zwischen Arm und Reich wieder an auseinanderzugehen.

Warum w?chst die Kluft zwischen Arm und Reich?

Gabriel Wollner kommt aus der politischen Philosophie. Er erforscht globale Wirtschafts- und Umweltgerechtigkeit als Juniorprofessor am Institut für Philosophie und am IRI Thesys der Humboldt-Universit?t zu Berlin (HU), wo er eine interdisziplin?re Forschergruppe leitet. Warum w?chst die Kluft zwischen Arm und Reich? ?Ungleichheit h?ngt unter anderem davon ab, wie viel Reichtum in einer Gesellschaft angeh?uft wird. Wenn die ohnehin Verm?genden an ihrem Reichtum st?rker verdienen als die Volkswirtschaft insgesamt w?chst, werden sie schneller wohlhabend als der Rest der Gesellschaft.“ Dabei spielen politische Faktoren und internationale Wirtschaftsordnungen eine Rolle, wie etwa das Ende des Bretton-Woods-Systems und die damit einhergehende Liberalisierung der Finanzm?rkte oder die F?higkeit von Staaten, angemessen zu besteuern. ?Für gro?e Unternehmen ist es viel zu leicht, sich einer gerechten Besteuerung zu entziehen. Jüngstes Beispiel dafür ist die Steuereinsparstrategie von Apple in Irland“, sagt der 34-J?hrige.

Ungleichheit fühlt sich für viele moralisch problematisch an, aber ist sie das auch? ?Egalitaristen sind vom Wert der Gleichheit überzeugt und glauben, dass sie ein Erfordernis von sozialer Gerechtigkeit ist. Zudem hat Ungleichheit eine Vielzahl schlechter Konsequenzen und kann beispielsweise eine Gefahr für demokratische Institutionen darstellen. Dahinter steht die Vermutung, dass Menschen mit h?herem Einkommen und gr??eren Verm?gen st?rkeren politischen Einfluss nehmen“, erkl?rt Wollner, der in Oxford und Harvard studiert hat und am University College London promoviert wurde. Zwei weitere, einfache Argumente gegen Ungleichheit: Wenn es Menschen materiell schlecht geht, und gleichzeitig Menschen im ?berfluss leben, hei?t das, dass die Ressourcen zur Linderung von Not vorhanden sind und das Problem durch Umverteilen gel?st werden kann.

Wie lie?e sich eine Welt, in der mehr Gleichheit herrscht, verwirklichen?

Einen grundlegenden Einwand gegen Ungleichheit verdeutlicht das Gedankenexperiment des Harvard-Philosophen John Rawls. Dürfen demnach Zuf?lle wie Geschlecht, Hautfarbe oder soziale Herkunft Einfluss auf das eigene Fortkommen und wirtschaftliche Wohlergehen haben? Keinesfalls, sagt Wollner, ein gro?er Teil der heutigen sozialen Ungleichheit lie?e sich auf Faktoren zurückführen, die aus moralischer Sicht nicht gerechtfertigt sind.

Wie lie?e sich eine Welt, in der mehr Gleichheit herrscht, verwirklichen? Eine enge Verknüpfung von nationalstaatlicher und globaler Perspektive ist vonn?ten. ?Hauptinstrument für mehr Gleichheit ist eine progressivere Einkommens-, Verm?gens- und Kapitalbesteuerung.“ Es müsste beispielsweise über politische Reformen nachgedacht werden, die es verm?genden Unternehmen erschweren, sich Steuern zu entziehen. Auch eine globale progressive Kapitalsteuer, wie es der vielgelobte franz?sische ?konom Thomas Piketty vorschl?gt, h?lt Gabriel Wollner für geeignet. ?An erster Stelle müssen wir uns Gedanken darüber machen, ob und wie viel Gleichheit wünschenswert ist, an zweiter Stelle, in Zusammenarbeit mit Sozialwissenschaftlern, darüber nachdenken, wie Umverteilung und wohlfahrtsstaatliche Institutionen unter den Bedingungen von Globalisierung funktionieren k?nnen.“ Drittens müsse man sich darüber klar werden, wie sich solche Institutionen politisch auch gegen die Interessen derjenigen, die von Ungleichheit profitieren, umsetzen lassen.

?Bildung beeinflusst unser ganzes Leben“

Kritiker des Egalitarismus messen der Gleichheit einen weitaus geringeren Stellenwert zu. ?konomische und soziale Unterschiede stellen in einer liberalen Gesellschaft kein Problem dar, sondern gelten als Motor einer florierenden Wirtschaft und als ausschlaggebend für das individuelle Lebensglück. Eine Ausnahme besteht aber dann, wenn Ungleichheit aus unfairen Wettbewerbsbedingungen resultiert. Besonders gravierende Folgen hat dies im Bildungsbereich. ?Bildung beeinflusst unser ganzes Leben – unsere beruflichen M?glichkeiten ebenso wie unser pers?nliches Wohlergehen. Deshalb ist es wichtig, die Weichen hier von Anfang an richtig zu stellen“, sagt Kirsten Meyer, Professorin für Praktische Philosophie und Didaktik an der HU. ?Der Bildungserfolg h?ngt in Deutschland immer noch stark von der sozialen Herkunft ab, das ist hochproblematisch. Auch generell l?sst sich nur schwer rechtfertigen, dass einige offenbar mehr von der staatlichen Bildung profitieren als andere.“

Was aber bedeutet es, dass alle ein gleiches Anrecht auf Bildung haben? Sollten alle Schüler gleich viele Ressourcen bekommen? Handelt es sich dabei dann um Geld, Zeit oder etwas anderes? Oder müssen die Ergebnisse gleich sein? Und würde es wom?glich schon reichen, wenn alle gebildet genug sind, um an demokratischen Prozessen teilzunehmen? Politiker wie Philosophen fast jeder Couleur sind sich einig, dass alle die gleichen Chancen auf Bildung haben sollten.?Es verbergen sich allerdings so viele unterschiedliche, sich teilweise sogar widersprechende Konzepte hinter dem Begriff der Chancengleichheit, dass er ohne n?here Erl?uterung nicht hilfreich ist“, sagt Meyer. Die Philosophie kann hier einen wichtigen Beitrag leisten, um die bildungspolitische Debatte zu ordnen.

Gleichverteilung von Ressourcen führt zu keinem fairen Ergebnis

Chancengleichheit besteht für Meyer, wenn soziale Faktoren für den Bildungserfolg und für das Erreichen attraktiver Positionen keine Rolle spielen. ?Die Schwierigkeit besteht allerdings darin, dass Chancengleichheit, je weiter man sie fasst, faktisch kaum umzusetzen ist.“ Denn es gibt Unterschiede, mit denen man leben muss. Beispielsweise, dass manche Eltern ihren Kindern vorlesen, was Vorteile für den Bildungserfolg hat, w?hrend anderen Kindern nicht vorgelesen wird. Allerdings ist es eine offene Frage, ob ein liberaler Staat den Eltern vorschreiben darf, ihre Kinder in die Kindertagesst?tte zugeben. Befürworter einer Kitapflicht erhoffen sich davon eine st?rkere Ann?herung an das Ideal der Chancengleichheit.

Es würden dennoch Unterschiede in den Bildungsergebnissen bleiben. Deren vollst?ndige Angleichung ist kein vernünftiges Ziel, weil dies mit einer Angleichung auf einem niedrigen Niveau verbunden w?re. Auch die Gleichverteilung von Ressourcen führt zu keinem fairen Ergebnis, weil jedes Kind unterschiedlich viel Zeit braucht, um Dinge zu verstehen. ?Man kann Kinder und Jugendliche auch nicht g?nzlich für ihre Leistungs- und Motivationsbereitschaft verantwortlich machen. Um sie als gerechtes Verteilungskriterium einzusetzen, h?ngen sie zu stark vom Elternhaus und anderen Erfahrungen ab.“

Schule sollte ein Ort erfüllter Zeit sein

Welche M?glichkeiten, die Chancen auf Bildung gerechter zu gestalten, bleiben uns dann aber noch? ?Ausschlaggebend ist, dass sich Schulen in ihrer Qualit?t nicht zu stark unterscheiden dürfen, und dass mehr gemeinsam gelernt wird, um Segregation zu vermeiden“, betont Meyer. Insofern sei es gut, dass es in Deutschland keine allzu gro?e Zahl von Privatschulen gibt, an denen Eltern einen erheblichen finanziellen Mehraufwand betreiben, um ihren Kindern Vorteile zu verschaffen.

Es geht Meyer aber nicht nur um die Berufsaussichten. Als Professorin für Didaktik ist ihr noch etwas anderes wichtig: ?Die Kindheit und Jugend ist ein pr?gender und besonderer Lebensanschnitt. Die Schule nimmt hier einen zentralen Platz ein, weshalb sie unbedingt ein Ort erfüllter Zeit sein sollte, wo Kinder gute Erfahrungen machen. Ich finde es wichtig, dass wir auch darüber nachdenken, inwieweit Schule glücklich machen kann.“

Autoren: Ljiljana Nikolic und Katja Riek

Der Artikel ist erstmals in der Tagesspiegel-Beilage der HU erschienen

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