Vom Gesellschaftsleben der Objekte
Was ist Material?
Unter einem Material stellte man sich in westlichen Gesellschaften bislang zumeist etwas Passives vor, das von fachkundigen H?nden zu einem verwendbaren Objekt geformt und sodann als Gebrauchsgegenstand dem Menschen verfügbar gemacht wird. Dabei zeugt ein nicht unerheblicher Teil menschlicher Erfindungen vom technischen Ideal der Best?ndigkeit – etwa die Eisenbahn oder das Auto, die Sonne, Sturm und Regen trotzen. Was aber, wenn haltbare Objekte ihre Schuldigkeit getan haben und ausrangiert werden sollen? Dass sich bestimmte Arten des Produktdesigns negativ auswirken, l?sst sich nicht zuletzt anhand der Berge kaum abbaubaren Plastikmülls erahnen, die sich auf Deponien in den ?rmeren Weltregionen auftürmen, in den Weltmeeren zu Inseln formen und als Mikroplastik zurück in die Nahrungskette gelangen.
"Wie kann ein Objekt zum Subjekt werden?" fragt
Prof. Dr. Patricia Ribault, Foto: Matters of Activity
Behavioral Matter
Die Frage nach nachhaltigeren Zukunftskonzepten in der Produktion ist eine, die Patricia Ribault und ihre Kolleginnen und Kollegen im Forschungsverbund Behavioral Matter umtreibt. Das Vorhaben ist dem Projekt Material Form Function angegliedert, Teil des Exzellenzclusters Matters of Activity und kooperiert mit drei franz?sischen Partnereinrichtungen, darunter auch der ?cole nationale supérieure des Arts Décoratifs (EnsAD Paris).
Was st?rt, ist gut
Was in der Produktion meist als st?rend empfunden und daher in der Regel gezielt unterbunden wird – Holz quillt bei N?sse auf, Eisen verformt sich bei Hitze – ist etwas, was der Forschungsverbund als Potenzial begreift. Die Ver?nderlichkeit der Materie soll genutzt werden, um so zu Entwürfen für weiche, anpassungsf?hige und abbaubare Materialien zu kommen. Der Beantwortung der Frage, welche technischen und sozialen Folgen ein Gestaltungsansatz zeitigt, der passive Objekte durch Gegenst?nde mit Eigenleben ersetzt, widmet sich Behavioral Matter mit einer Reihe von Workshops, Tagungen und neuartigen Diskussionsformaten in Frankreich und Deutschland.
Bitte interagieren Sie mit den Toastern!
Foto:? Olivain Porry? (EnsadLab / Reflective Interaction),?
Toasters, event “Nous ne sommes pas?le nombre que nous
croyons être”, La Cité internationale des Arts, Paris, 2018
Scheuende Toaster
In einem Videoclip auf der Homepage des Kooperationspartners EnsADLab kommt die Vision einer belebten Objektwelt zu einem eindrucksvollen Bild: Hier b?umen sich robotisierte Toaster auf wie scheuende Pferde, schnellen mit lautem Knall zurück auf die Tischplatte, auf der sie der Künstler Olivain Porry drapiert hat. Ausl?ser dieser Aufwallungen sind Ver?nderungen in der Umgebungstemperatur. Wann diese Bewegungen stattfinden, ist für die Anwesenden nicht vorherzusehen, immer wieder schnellt ihr Blick hinüber zum Tisch, auf dem die eigentümlich agilen Ger?te ihr Unwesen treiben. In diesen kurzen Szenen tritt das Potenzial ?lebendiger“ Gegenst?nde deutlich zu Tage, unseren Blick auf Objekte und mit ihm unser Weltverh?ltnis zu ver?ndern. Eigensinnige Toaster als Vorgeschmack auf mit Kompetenzen und Eigenimpulsen ausgestattete Gebrauchsgegenst?nde – hat diese Zukunftsvision nicht auch etwas Unheimliches?
Wie wird ein Objekt zum Subjekt?
Patricia Ribault lacht auf und strahlt, l?sst sich zurück in ihren Bürostuhl fallen und kontert, dass es ja gerade diese Potenziale seien, die die Forschung im Cluster so spannend machten. Die Wissenschaftlerin ist Juniorprofessorin für Geschichte und Theorie der Gestaltung und eine der Koordinatorinnen von Behavioral Matter. ?Was uns umtreibt, ist unter anderem die Frage, ob und wie ein Objekt zum Subjekt werden kann,“ erkl?rt die Forscherin. Ausgehend vom Begriff des Verhaltens sei ihr Ziel, die Vorstellung einer in belebte und unbelebte Objekte unterteilten Welt grunds?tzlich in Frage zu stellen. ?Statt Materie als etwas zu begreifen, das passiv von Menschen geformt und mit Funktionen ausgestattet wird, begreifen wir sie als handlungs- und anpassungsf?hige Partnerin. Es geht uns darum, eine neue Perspektive einzunehmen und hierüber zu neuen Formen des Denkens und Designens zu kommen.“
Schleimpilze mit Gefühlen
Eben solche neuen Formen erprobten die Forscherinnen und Forscher jüngst bei einem aufw?ndig gestalteten Workshop: Im Centre Georges Pompidou empfingen Patricia Ribault und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter Teilnehmende aus aller Welt, hatten in der Vorhalle des Pariser Kunst- und Kulturzentrums Arbeitspl?tze eingerichtet, an denen drei Tage lang in zw?lf Kleingruppen getüftelt, gedacht und experimentiert wurde. Hier trafen Künstlerinnen und Designer auf Studierende und Forschende aus Natur-, Ingenieurs- und Geisteswissenschaften, experimentierten mit Schleimpilzen oder druckten neuartige Reissorten am 3D-Drucker. Auch wurden ein Internet der Tiere und die Frage diskutiert, ob es Menschen m?glich ist, die Gefühlsregungen von Pflanzen wahrzunehmen. Begleitet und live übertragen wurden die interdisziplin?r gewonnenen Fragestellungen und Erkenntnisse im Rahmen eines eigens dafür eingerichteten, mobilen Radioprogramms. ?Zu den über neunzig Teilnehmenden aus einundzwanzig Institutionen kamen all die Besucherinnen und Besucher des Centre Georges Pompidou, die sich um uns scharten und uns mit Fragen l?cherten. In manchen Momenten mussten wir die Arbeit unterbrechen, um dieser immensen Resonanz Rechnung tragen zu k?nnen,“ freut sich die Wissenschaftlerin.
Sezierte Kunstwerke
Disziplin?re Grenzen zu überwinden und so zu neuen Sichtweisen zu gelangen, das ist auch Ziel eines weiteren Formates, mit dem Behavioral Matter im kommenden Jahr das Tieranatomische Theater in Berlin bespielen wird. Bei Dissect versammeln sich Experten unterschiedlicher Fachrichtungen um einen runden Tisch, diskutieren ergebnisoffen und vor Publikum. Seziert werden hier allerdings nicht Leichen oder Tierkadaver, sondern zeitgen?ssische Kunstwerke, die auf die Entwürfe des preisgekr?nten Londoner ecoLogicStudio für Umweltdesign zurückgehen. ?Wir stellen diese Objekte zur Diskussion und verbinden hierbei den fachlichen Ideenaustausch mit Darstellungspraktiken des Theaters. Die Reihe geht auf eine Formatidee unserer Kollegen Samuel Bianchini und Emanuele Quinz zurück.“
Eine neue Logik
?Mit Behavioral Matter begeben wir uns auf die Suche nach zukunftsweisenden Gestaltungsprozessen und neuen Formen der Interaktion zwischen verschiedenen Spezies – ob künstlich oder natürlich,“ resümiert Patricia Ribault und fügt hinzu, dass die Natur hierbei eine der wichtigsten Informationsquellen sei. ?Perspektivisch wollen wir lebens?hnliche und hybride Systeme schaffen, die nachhaltig und nicht oder nur in geringem Ausma? von gezielter Energiezufuhr abh?ngig sind.“ Im Zentrum stehe dabei der Prozess des Gestaltens selbst. ?Wie geben wir Form und wie übersetzt sich unser Ansatz in die Objekte, die wir schaffen?“ Ziel sei es, die Logik von Industrie- und Designprozessen von Grund auf zu ver?ndern, sagt die Forscherin. ?Die Materialien der Zukunft werden nicht fest und starr sein, sondern flexibel, weich, multifunktional und anpassungsf?hig.“ Eben so, wie das Leben selbst.
Autorin: Nora Lessing
Sommerthema 2019: Wie wollen wir zusammen leben?
Folge 1 mit der Ethnologin Prof. Dr. Silvy Chakalakkal: "Ich gehe davon aus, dass Zeit nicht einfach da ist."
Folge 2 mit dem Soziologen Prof. Dr. Steffen Mau: Erkundungen in der ostdeutschen Heimat
Folge 3 mit dem Makro?konomen Prof. Marcel Fratzscher (PhD): Für einen starken Sozialstaat