?Neue Nachdenklichkeit in der ?ffentlichkeit“

Prof. Dr. Andreas Reckwitz, Foto: Jürgen Bauer
Herr Reckwitz, im Oktober erschien das Buch ?Sp?tmoderne in der Krise“ von Hartmut Rosa und Ihnen. Die Resonanz darauf war gro?, auch au?erhalb von soziologischen Kreisen. Was glauben Sie, warum es in der Allgemeinbev?lkerung ein gesteigertes Bedürfnis nach Gesellschaftstheorien gibt?
Andreas Reckwitz: Das Interesse an Gesellschaftstheorie steigt, wenn die gesellschaftliche Krisenwahrnehmung sich intensiviert. In den letzten Jahren hat die klassische Fortschrittsvorstellung, nach der die Zukunft notwendigerweise besser wird als die Vergangenheit stark an Kredit verloren. Krisen wie Corona, der Aufstieg des Populismus, der Klimawandel – das sind alles Momente, die zu einer Art neuen Nachdenklichkeit in der ?ffentlichkeit führen, übrigens nicht nur in Deutschland.
Gerade vor diesem Hintergrund sind die theoretischen Gesamtinterpretationen in Hartmut Rosas ?Resonanz“ von 2016 und in meinem Buch ?Die Gesellschaft der Singularit?ten“ von 2017 auf ein breites Interesse gesto?en. Und wenn nun diese beiden Theoretiker sich gemeinsam an einen Tisch setzen, dann ist das offenbar für die Leser interessant, um zu verstehen, wie diese beiden Ans?tze zueinander stehen. ?
K?nnten Sie Ihre Position kurz umrei?en? ?
Reckwitz: Grunds?tzlich geht es mir um die Wandelbarkeit der modernen Gesellschaft selbst. W?hrend im 20. Jahrhundert zun?chst die industrielle Moderne herrschte, hat sich seit den 1980er Jahren eine ver?nderte Form von Moderne ausgebildet, behelfsweise kann man von Sp?tmoderne sprechen. W?hrend die industrielle Moderne eine ?Gesellschaft der Gleichen' (Rosanvallon) war, also eine soziale Logik des Allgemeinen herrschte, ist die die Sp?tmoderne durch Singularisierungsprozesse gepr?gt. Es gibt eine Orientierung am Besonderen, am Einzigartigen, am Au?erordentlichen, es wird alles angestrebt, was nicht dem Standard entspricht. Es geht um Individualit?t und Differenz. Die Mechanismen, die zu dieser Singularisierung führen, sind wirtschaftliche und technologische – der postindustrielle, kulturelle Kapitalismus mit seinen Singularit?tsgütern spielt ebenso eine Rolle wie die Digitalisierung, in der jeder seine eigene Schnittstelle zur digitalen Wirklichkeit hat – , aber auch soziokulturelle Mechanismus in Richtung Wertewandel von Selbstverwirklichungswerten und der Aufstieg einer modernisierten, hoch gebildeten Mittelklasse.
Die Singularisierung ist in vieler Hinsicht eine Errungenschaft. Aber sie führt zu Polarisierungen zwischen Erfolgreichen und Erfolglosen und sie führt zu einer Krise des Allgemeinen. Das Allgemeine scheint keinen Ort mehr zu haben, man denke an die fragmentierten ?ffentlichkeiten. Die Frage ist, ob die Sp?tmoderne ihren Zenit überschritten oder sie sich zumindest selbst transformiert, etwa angesichts der Herausforderung des Klimawandels. ?
Warum haben Sie sich für die Form eines kritischen Dialogs entschieden? ?
Reckwitz: In der intellektuellen ?ffentlichkeit tritt typischerweise jeder nur für sich selbst auf, als Solit?r. Bei Hartmut Rosa und mir, die wir uns schon lange kennen, kam die Idee auf, jetzt einmal umgekehrt von einem gemeinsamen Interesse auszugehen. Schlie?lich ist die Gesellschaftstheorie, die Theorie der Moderne unser verbindendes Element und wir wollten zusammen herausfinden, wo unsere Differenzen und wo unsere Gemeinsamkeiten liegen.
In unserem Buch stellen wir unsere Perspektiven jeweils einzeln dar, so dass auch die Leserinnen und Leser das gut gegenüberstellen k?nnen und treten dann in den mündlichen, moderierten Dialog. Das war uns wichtig, dass das ein mündliches Gespr?ch ist, weil man hier schnell aufeinander reagieren kann und sich manches auch leichter erschlie?t.
Hatten Sie einen Schlüsselmoment in der Auseinandersetzung mit Hartmut Rosa, der Ihr Denken neu beeinflusst hat?
Ich habe in der Auseinandersetzung mit Hartmut Rosa besser begriffen, wie unterschiedlich man Theorie betreiben kann, dass es unterschiedliche Theoriestile gibt, und zwar unabh?ngig von den Inhalten. Es gibt im intellektuellen Diskurs zwei Typen: die Füchse und die Igel – das ist eine Unterscheidung von Isaiah Berlin. Der Igel geht von einer Leitidee aus und buchstabiert diese aus, vielleicht verfolgt er diese sogar ein Leben lang. Der Fuchs hat immer andere und neue Ideen, er verfolgt st?ndig neue F?hrten. Diese Stile gibt es in der Philosophie, der Literatur und anderen Bereichen. Mir ist jetzt deutlicher geworden: Hartmut Rosa ?hnelt mehr dem Igel und ich dem Fuchs. Mir geht es nicht so sehr um ein stabiles Theoriesystem, sondern eigentlich um eine st?ndige Ver?nderung des theoretischen Blickwinkels. Ich denke, beide Theoriestile haben ihren eigenen Wert. Das ist mir in dem gemeinsamen Buch deutlich geworden.
?ber das Buch
Die Soziologen Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa sind in den letzten Jahren durch gro? angelegte, jedoch unterschiedliche Gesellschaftstheorien bekannt geworden. Angesichts der steigenden Anzahl von Krisen ist das Interesse an solchen grunds?tzlichen Analysen der gegenw?rtigen Gesellschaft enorm gestiegen. Vielleicht lassen sich durch ein Verstehen der Gegenwart L?sungen für einen Weg aus den krisenhaften Zust?nden finden. Und dem Verstehen der Gegenwart n?hert sich der Leser mit dem Buch ?Sp?tmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie“ durch einem Einblick in die beiden verschiedenen Theorien. Anschlie?end treten Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa in einen kritischen Dialog, um ihre unterschiedlichen Gesellschaftsanalysen auszudiskutieren.
Die Fragen stellte Wiebke Heiss.