Opfer und/oder T?ter?
Foto: Matthias Heyde
Vor einem Londoner Gericht wird derzeit entschieden, ob der WikiLeaks-Gründer Julian Assange an die USA ausgeliefert werden soll. Für die einen ist er ein investigativer Widerstandsk?mpfer, der mit journalistischen Methoden die verdeckten Machenschaften von Milit?rs und Geheimdiensten aufdeckt. Für die anderen ist ein Verr?ter, der durch die Ver?ffentlichung vertraulicher Dokumente viele Menschenleben in Gefahr bringt. Die einen werfen ihm vor, sich feige dem Vorwurf sexueller N?tigung entzogen zu haben. Andere prangern an, dass der Australier ein Opfer von Folter geworden sei.
?Bei der hitzigen ?ffentlichen Debatte um Julian Assange vermischen sich verschiedene Aspekte, die sauber voneinander getrennt analysiert werden sollten,“ erl?utert Martin Heger, Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht, Europ?isches Strafrecht und Neuere Rechtsgeschichte an der Humboldt-Universit?t zu Berlin. ?Ob Assange akut krank ist, berührt nicht die Frage, ob er generell an die USA ausgeliefert werden sollte.“ Die schlechte gesundheitliche Verfassung von Assange ist in den letzten Wochen ?ffentlich verst?rkt thematisiert worden. Nach einem Besuch des Inhaftierten sagte der UN-Sonderberichterstatter Nils Melzer, Assange zeige alle Anzeichen eines Opfers psychologischer Folter.
?Selbst wenn diese Diagnose zutrifft, ist die Schlussfolgerung, er sei gefoltert worden, problematisch“, erwidert Heger. Nach jahrelangem, beengtem Aufenthalt in der ecuadorianischen Botschaft und nun in einem Hochsicherheitsgef?ngnis, sei es durchaus m?glich, dass solche Symptome auftreten, ohne dass jemand psychische Foltermethoden anwendet. ?Um dies einordnen zu k?nnen, bedarf es der Untersuchung durch Mediziner von neuraler Stelle.“ Sollte sich herausstellen, dass Assange nicht prozessf?hig ist, stünde die Verlegung in ein Haftkrankenhaus an. Nach der Genesung würde der Prozess wieder aufgenommen.
Assange-kritische Stimmen in Gro?britannien
Die US-Regierung hat im Juni 2019 in London die Auslieferung von Assange beantragt, um ihm in Amerika den Prozess machen zu k?nnen. Dies ist v?lkerrechtlich ein g?ngiges Prozedere. ?Alle europ?ischen Staaten haben sich dazu verpflichtet, eine Person nur dann auszuliefern, wenn ihr in H?nden der antragstellenden Nation weder Folter noch die Todesstrafe drohen“, so Heger. Das hei?t: Nur dann, wenn die USA im Vorfeld verbindlich zusichern, Assange nicht zum Tode zu verurteilen, wird er überstellt. ?Grünes Licht für die Auslieferung gibt das Gericht in London aber erst, nachdem es gekl?rt hat, dass die Begründung der USA nachvollziehbar und begründet ist“, sagt Heger.
Assange hat gro?e Datenmengen ver?ffentlicht, die bis dahin von Regierungsbeh?rden wie Geheimdiensten unter Verschluss gehalten worden sind. Dies ist unbestritten. Aber war dies Aufkl?rungsarbeit im journalistischen Sinne oder Geheimnisverrat, gar Spionage? In der hiesigen Berichterstattung überwiegt die Einsch?tzung, dass mit dem prominenten Whistleblower die freie Presse unter Druck gerate. ?In der britischen ?ffentlichkeit machen sich daneben auch Assange-kritische Stimmen st?rker bemerkbar als hierzulande“, sagt Gerhard Dannemann, Professor am Gro?britannien-Zentrum der Humboldt-Universit?t. ?Zum einen hat der Aktivist viele Unterstützer verprellt, als er sich in die ecuadorianische Botschaft zurückzog.“ Prominente Unterstützer wie Ken Loach hatten Geld für seine Kaution gezahlt, das wegen dieser Flucht einbehalten wurde.
?Des Weiteren ist die ?ffentlichkeit bei der politischen Einsch?tzung seines Tuns deutlich gespalten“, so Dannemann. Das gehe nicht so tief wie etwa beim Brexit, aber der Aspekt des Geheimnisverrats werde von gr??eren Teilen der britischen Gesellschaft ernster genommen, als man dies in Deutschland wahrnehme. ?Da wurden immerhin Massen an Daten ungefiltert ver?ffentlicht, viele davon personenbezogen“, gibt Dannemann die Bedenken vieler Briten wider. ?Ein vielfach kritisierter Punkt war etwa, dass die Homosexualit?t von Menschen samt ihrer Namen publiziert worden seien, was in einigen Staaten Leben gef?hrden kann.“
Doch die Causa Assange bringt auch eine positive Seite zutage: ?Die englischen Boulevardmedien, ansonsten für ihre nicht unbedingt fundierte Meinungsst?rke berüchtigt, berichten über den Fall überraschend differenziert“, sagt Dannemann. ?Wer einen guten ?berblick bekommen will, findet dort gut recherchierte Artikel mit viel Detailkenntnis.“
Chronik im Fall Assange
2006
Die Enthüllungsplattform WikiLeaks, auf der Dokumente anonym ver?ffentlicht werden k?nnen, geht an den Start. Mitbegründer ist der australische Hacker Julian Paul Assange.
2010
WikiLeaks ger?t nach Ver?ffentlichung von US-Milit?rdokumenten und Videos zum Milit?reinsatz in Afghanistan vor allem in den USA unter Druck.
Assange beantragt in Schweden, wo Journalisten einen besonders umfassenden Quellenschutz genie?en, eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis. Im August 2010 beschuldigen zwei Frauen Assange bei der schwedischen Polizei wegen sexueller Vergehen.
Die schwedische Justiz erlaubt Assange zun?chst eine Reise nach Gro?britannien, stellt im November aber einen internationalen Haftbefehl wegen des Verdachts der Vergewaltigung aus; ein Verfahren zur Auslieferung nach Schweden wird eingeleitet.
2012
Assange flüchtet in die ecuadorianische Botschaft in London, um sich der anstehenden Auslieferung nach Schweden zu entziehen.
2017
Schweden stellt das Verfahren gegen Assange vorerst ein, die Schuldfrage bleibt ungekl?rt.
2019
Im April 2019 liefert der ecuadorianische Botschafter seinen Gast wegen aggressivem und respektlosen Verhalten an die Londoner Polizei aus. Assange wird verhaftet, weil er 2012 gegen Kautionsauflagen versto?en hat.
Autor: Lars Klaa?en