Von der Pflicht zu helfen
Gedanken zum Menschenrecht auf Flucht
Viele europ?ische Gesellschaften nehmen die derzeitigen Flüchtlingsstr?me zum Anlass, um nach ihren moralischen Verpflichtungen gegenüber den in Europa Schutz Suchenden zu fragen. Einen Ausgangspunkt für eine ethische Auseinandersetzung stellen die universalen Menschenrechte dar, die neben ihrer juridischen eine moralische Dimension haben. Sie kommen jedem Menschen unabh?ngig von kulturellem Hintergrund, Herkunft oder beruflicher Ausbildung zu.
Nach verbreiteter Vorstellung besteht die Funktion der Menschenrechte darin, die Grundbedürfnisse jedes Individuums zu schützen. Dazu z?hlen etwa ein Mindestma? an Bewegungsfreiheit, die Abwesenheit von Hunger und starken Schmerzen, aber auch die M?glichkeit, soziale 金贝棋牌e zu haben.
Moralischer Anspruch auf Aufnahme
Unter einem Flüchtling soll nun jemand verstanden werden, dessen Grundbedürfnisse an seinem Herkunftsort bedroht sind, und der deshalb an einem fremden Ort Zuflucht sucht. Einerseits wird diese Begriffsbestimmung dem Umstand gerecht, dass Menschen, die ihr Herkunftsland aus weniger dr?ngenden Gründen verlassen, nicht als Flüchtlinge, sondern als Migranten gelten. Andererseits ist sie weit genug, um auch der Rede von Armuts- und Umweltflüchtlingen einen Sinn abzugewinnen. Dann aber folgt, dass wir Hilfspflichten gegenüber jedem Flüchtling haben, gleichgültig, ob er vor Krieg, politischer Verfolgung oder Armut flieht.
Aus den Hilfspflichten gegenüber Flüchtlingen ergibt sich nicht unmittelbar die Pflicht, Asyl zu gew?hren, da die n?tige Hilfe auf verschiedene Weise erfolgen kann. Beispielsweise indem Flüchtlinge in Drittstaaten untergebracht werden, die ihr Wohl tats?chlich gew?hrleisten. Solange aber keine andere Hilfe geboten wird, folgt daraus, dass wir jedem Flüchtling einen moralischen Anspruch auf Aufnahme zugestehen müssen.
Nicht immer m?glich, allen Hilfspflichten auf einmal nachzukommen
Doch auch wenn die Menschenrechte mit starken Gründen zu Hilfshandlungen einhergehen, so sind diese durchaus mit anderen moralischen Gründen abzuw?gen. Dies gilt schon deshalb, da es für einen einzelnen Akteur nicht immer m?glich ist, all seinen Hilfspflichten auf einmal nachzukommen; zumal dann nicht, wenn sich andere hilfsf?hige Akteure weigern, ihren fairen Anteil zu übernehmen.
Den Hilfspflichten nachzukommen, kann aber auch dazu führen, dass das Wohlergehen des jeweiligen Akteurs (in diesem Fall der Bev?lkerung europ?ischer Staaten) in unzumutbarer Weise herabgesetzt wird. Das w?re etwa dann zu befürchten, wenn durch die Aufnahme vieler Flüchtlinge die innere Sicherheit, die demokratische Ordnung oder der Sozialstaat gef?hrdet w?re.
Würden wir als Geflüchtete der Grenzschlie?ung zustimmen?
Wann das Wohlergehen in einem relevanten Ma?e beeintr?chtigt und es moralisch vertretbar oder geboten w?re, weitere Hilfspflichten zu unterlassen, ist zum einen eine empirische Frage. Hier gilt es zu untersuchen, wie sich die Aufnahme von Flüchtlingen auf die gesellschaftlichen Teilbereiche auswirkt. Es ist aber auch eine normative Frage, wo die Grenze der Zumutbarkeit zu ziehen ist. Die Antwort liegt nicht einfach im eigenen Ermessen des moralischen Akteurs: Moralisch zu handeln hei?t, sich an allgemein teilbaren Gründen zu orientieren und nicht an pers?nlichen Vorlieben.
Vielmehr w?re daher zu fragen, an welchem Punkt auch die Flüchtlinge der Schlie?ung der Grenzen vernünftiger Weise zustimmen k?nnten; oder: ob wir, die Bewohner Europas, ihr auch dann noch zustimmen würden, wenn wir selbst zu den Flüchtlingen geh?rten. Ein aufrichtiges Einfühlen in die Situation der leidtragenden Personen sollte uns in dieser Frage als Korrektiv unserer h?ufig eigennützig-verzerrten Einsch?tzung der ethischen Sachlage dienen.
Autor: Marcel Twele
Der Autor ist Philosophie-Masterstudent und hat den 2. Preis im Essay-Wettbewerb der ?Gesellschaft für analytische Philosophie“ gewonnen. Dieser Text fasst sein Essay zusammen, das im Band ?Welche und wie viele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen?“ im Reclam Verlag erschienen ist.
Der Text ist zuvor in der Tagesspiegel-Beilage der HU erschienen.
Weitere 金贝棋牌
Die Tagesspiegel-Beilage 2016 als PDF-Datei
?