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?Die Vergangenheit bleibt spannend, ihre Zukunft ebenso“

Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk über seine Studienzeit in der Nachwende

Ilko-Sascha Kowalczuk

Ilko-Sascha Kowalczuk, Foto:?Ekko von Schwichow

Mit besonderer Neugier beobachtete ich von au?en, was sich in der Revolution 1989 an der HU tat. Mir war das alles zu wenig und zu zahm. Ab September 1990 durfte ich dann endlich mitmischen. Energieladen, mit moralischem ?berschuss, machte ich mich ans Werk, wollte Geschichte studieren und fand mich inmitten politischer Auseinandersetzungen um die Zukunft der Uni wieder. Schon bald sa? ich in allen m?glichen Kommissionen und Gremien, wie das so war damals, mal gew?hlt, mal auch nicht. Engagement war gefragt. Es war eine verrückte Zeit, in der ich lebenslange Freundschaften schloss, aber ich sammelte auch Abneigungen ein. Das passiert immer, wenn man eindeutig durchs Land rennt. Ich wollte alles neu haben, vor allem die politisch belasteten Personen mussten weg. Die Kommissionen für den Neuanfang waren umstritten, gefürchtet, verhasst. Hat es sich gelohnt?

Die Debatten um Ostdeutschland kommen seit drei Jahrzehnten nicht zur Ruhe. Ein vieldiskutiertes Problem ist dabei die Unterrepr?sentativit?t Ostdeutscher in ma?geblichen Führungspositionen in der ?ffentlichen Verwaltung, in der Justiz, in der Armee, Polizei, in der Wirtschaft - und auch in Wissenschaft und Lehre. Dabei diskutieren wir nicht einmal die Unterrepr?sentativit?t Ostdeutscher in Bayern oder Nordrhein-Westfalen, sondern ?nur“ in den ostdeutschen L?ndern einschlie?lich Berlin. Nur jene, die nicht betroffen sind bzw. auf den Führungspositionen, zum Beispiel einem Lehrstuhl, sitzen, t?nen allerorten, die Herkunft ist doch nicht wichtig.

Ostdeutsche Netzwerke waren rar

Eliten neigen seit jeher dazu, sich aus sich selbst heraus zu rekrutieren. Es ist notwendig, in die Rekrutierungspools zu gelangen. Das ist Ostdeutschen bis heute nicht nennenswert gelungen. Dafür gibt es viele Gründe. Ein nicht unwesentlicher dafür dürfte sein, wie die Universit?ten und 金贝棋牌n im Osten nach 1990 neu aufgebaut worden sind. Ich habe das an der Humboldt-Universit?t zu Berlin hautnah miterlebt, war selbst in diversen Kommissionen daran beteiligt. Gerade in den ideologisch kontaminierten F?chern wie Jura, Wirtschaft, Geschichte, Philosophie, Politologie, Regionalwissenschaften, Kultur- und Literaturwissenschaften und einige andere gab es zur Tabula rasa keine Alternative. Das glaube ich auch heute noch. Doch gab es auch keine Alternative zu der Art des Neuaufbaus? Das wiederum glaube ich nicht. In den erw?hnten F?chern sind neue Institute aufgebaut worden, die strukturell erfolgreichen Einrichtungen im Westen glichen. Es war in der Regel eine ?bernahme bew?hrter Strukturen, eine innovationslose Anpassung, auf Innovationen ist überwiegend verzichtet worden.

Die Neuberufenen kamen fast durchweg aus dem Westen. Das war in den ideologisch kontaminierten F?chern so gewollt, denn zum Neuanfang geh?rte auch neues, unbelastetes Personal, das den letzten Stand der Forschung repr?sentierte. Was allerdings dann doch überraschte, war, dass die Neuberufenen im Schlepptau Netzwerke hinter sich herzogen, in die Ostdeutsche nur in seltenen Ausnahmef?llen hineinkamen. Das war an der HU mit ihrem Renommee als Hauptstadtuni und ihrem Anspruch als neues Zentrum von Forschung und Lehre an der Nahtstelle zwischen Ost- und Westeuropa besonders dramatisch, weil hier anders als an anderen Unis im Osten nicht die zweite oder dritte Westgarde einmarschierte, sondern die Berufungskommissionen meist die Qual der Wahl unter den Spitzenvertreter*innen der jeweiligen Fachgebiete hatten. Und natürlich brachten sie ihre engmaschigen Netzwerke mit. Ostdeutschen Nachwuchskr?ften blieb meist ein Platz am Katzentisch, damals etwa Wissenschaftler-Integrations-Programm genannt. Als all die Sonderf?rderungen ausgelaufen waren, verschwanden die Ostler auch immer mehr. Und wie h?tte man das anders machen k?nnen? Damals ist diskutiert worden, andere als die im Westen gewohnten Karrierewege zu erm?glichen. Das ist abgelehnt worden mit fadenscheinigen Argumenten. So war das Ergebnis vorhersehbar. Die Folgen sind bis heute sicht- und spürbar. Mein Vorschlag: Die Rede von ?Ostdeutschland“ und ?Ostdeutschen“ endlich zu beenden. Beides sind Begriffe, die homogenisieren wollen, was ?u?erst heterogen ist. Sie waren nützlich, um die neue Macht- und Herrschaftsverh?ltnisse im Sinne Hannah Arendts nach 1990 Problem zu implantieren. Das ist nicht mehr n?tig, jetzt geht es darum die gegebene Diversit?t auch sprachlich zu akzeptieren. Mal sehen, was wir zum 50. Jahrestag der Einheit debattieren werden. Die Vergangenheit bleibt spannend, ihre Zukunft ebenso.

Ilko-Sascha Kowalczuk (53) studierte von 1990 bis 1995 an der HU Geschichte. Er arbeitet als Historiker und hat zahlreiche Bücher ver?ffentlicht, zuletzt: Die ?bernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde (Verlag C.H.Beck München, 2019, 6. Aufl.). Er ist Mitglied der Regierungskommission ?30 Jahre Revolution – 30 Jahre Deutsche Einheit“.

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Kommission ?30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“

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