?Die massiven Einsparungen machen sich w?hrend der derzeitigen Pandemie bemerkbar“
Foto:?Jonathan Chng /?Unsplash
Der Begriff ?Austerit?tspolitik“ ist in Deutschland noch nicht so gel?ufig. Man spricht hier lieber von der ?schwarzen Null“. Die Deutschen sind doch auch sparsam. Wenn sich ein Staat in seinen Ausgaben diszipliniert und in jeder Hinsicht spart, was ist daran falsch?
Dr. Marius Guderjan:?Auch wenn die britische Austerit?tspolitik letztendlich mit der Notwendigkeit eines ausgeglichenen Haushalts begründet wurde, würde ich sie nicht mit der deutschen Finanzpolitik gleichsetzen. Man kann natürlich darüber streiten, ob Deutschland sowohl im eigenen Land als auch im Süden Europas st?rker konjunkturf?rdernde Investitionen als einen Schuldenabbau vorantreiben soll, um die Auswirkungen wirtschaftlicher Krisen entgegen zu wirken. Im Gegensatz zu Gro?britannien wurden aber in Deutschland selbst die Ausgaben für ?ffentliche Dienstleistungen und das Sozialsystem nicht massiv zurückgefahren.
Die Notwendigkeit und Zweckm??igkeit der britischen Austerit?tspolitik sind?sehr umstritten.?W?hrend die britischen Staatsausgaben kaum gesenkt werden konnten, führten?die Sparma?nahmen zu steigender Armut, hoher Obdachlosigkeit, die Ausweitung prek?rer Arbeitsbedingungen,?langen?Schlangen vor den ?Food Banks“, einer Einschr?nkung rechtlicher Beihilfen und einem drastischen Einschnitt in Kultur- und Freizeitangebote. Besonders auf kommunaler Ebene werden die Haushaltskürzungen sich?noch lange Zeit?negativ auswirken.
David Camerons Austerit?tsagenda war ein politisches Vorhaben mit dem Ziel, die Verantwortung für das Wohlergehen der Bürgerinnen und Bürger vom Staat auf das Individuum zu verlagern und die M?rkte zu deregulieren. Sozial und wirtschaftlich benachteiligte Menschen sind davon nach wie vor am st?rksten betroffen. Die daraus folgenden Spannungen in der britischen Gesellschaft waren letztendlich ausschlaggebend, dass eine Mehrheit der Briten 2016 für einen Austritt aus der EU stimmte.
Die britische Austerit?tspolitik wirkte sich nach Ihren Untersuchungen direkt auf das britische Gesundheitssystem aus. Das zeigen Sie im neuen Buch "Contested Britain: Brexit, Austerity and Agency“ des GBZ, dessen Mitherausgeber Sie sind. Woran kann man dies sehen?
Guderjan:?Durch die Einschr?nkungen sozialer Dienste beanspruchen auch mehr Menschen das Gesundheitssystem. Zudem altert die britische Bev?lkerung und Behandlungskosten werden teurer. Die Regierung hat die Mittel für den National Health Service seit 2010 nicht ausreichend angehoben, um die steigenden Kosten zu decken. Das Ergebnis sind ein Mangel an ?rztinnen und ?rzte sowie Pflegekr?ften, lange Wartezeiten für Patientinnen und Patienten, weniger Krankenhauspl?tze und eine zeitweise überforderte Notfallversorgung. Zwar hat Boris Johnson angekündigt, in den n?chsten zehn Jahren 40 neue Krankenh?user errichten zu lassen und mehr Personalmittel zur Verfügung zu stellen. Die versprochenen Investitionen in den National Health Service sind jedoch bei n?herem Betrachten eher kosmetischer Natur und werden den Bedarf nicht decken k?nnen.
Wie wirkt sich die britische Austerit?tspolitik in Zeiten von Corona konkret auf das Krisenmanagement im britischen Gesundheitssystem aus?
Guderjan:?Wie auch in anderen europ?ischen L?ndern machen sich die massiven Einsparungen w?hrend der derzeitigen Pandemie besonders?bemerkbar. In den Krankenh?usern fehlt es?an Krankenbetten,?Intensivstationspl?tzen, Fachpersonal,?Schutzkleidung und mancher Orts sogar an Sauerstoffreserven. Im Zuge des Brexits haben viele ?rztinnen und ?rzte und Pflegekr?fte aus der EU, auf die der NHS angewiesen ist, Gro?britannien wieder verlassen. Die verbliebenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind unterbezahlt und leisten unbezahlte ?berstunden, weil nicht genug Geld vorhanden ist. Zudem erschweren die Fragmentierung und Teilprivatisierung des Gesundheitssystems ein koordiniertes Vorgehen bei der Bek?mpfung des Virus. Zumindest im Vergleich mit Deutschland ist die Todesrate im Verh?ltnis zur Anzahl der Infizierten deutlicher h?her. Allein am Dienstag starben 563 Menschen am Corona-Virus. Bisher kann der NHS die medizinische Versorgung noch gew?hrleisten. Trotz eines milliardenschweren Notfallpakets der Regierung kann sich dies aber schnell ?ndern, da es kaum Reserven gibt, auf die man zurückgreifen k?nnte. Die Regierung bemüht sich daher angestrengt um die Beschaffung von zus?tzlichen Test-Kits, Schutzkleidung und Beatmungsger?ten, und setzt auf die Rekrutierung von freiwilligen Helfern und pensionierten Fachkr?ften. Es bleibt zu hoffen, dass die Ansteckungsrate nicht rasant anw?chst.
In wie fern ist Ihre Arbeit von den aktuellen Entwicklungen in Europa und speziell in Gro?britannien betroffen?
Guderjan:?Eigentlich w?re ich momentan noch in London, um dort im Rahmen eines DFG-Forschungsstipendiums Interviews mit Mitgliedern des britischen Parlaments und der Regierung zu führen. Dort z?gerte man noch mit der Einführung strikterer Ma?nahmen zur Eind?mmung des Virus als diese z.B. in Berlin schon umgesetzt wurden. Als die Lage sich aber zuspitzte und die Gespr?che vor Ort nicht mehr stattfinden konnten, entschied ich mich vorzeitig abzureisen bevor dies irgendwann nicht mehr m?glich gewesen w?re. Manche Interviews führe ich jetzt online und ich hoffe darauf, dass sich die Situation bis Herbst soweit entspannt und ich meine Feldforschung weiter betreiben kann.
Abgesehen davon stehen natürlich alle Kolleginnen, Kollegen und Studierenden des GBZ, wie auch an der gesamten HU, vor erheblichen Herausforderungen. Was am GBZ noch dazu kommt, sind die pflichtm??igen Praktika unserer Masterstudierenden in Gro?britannien, die zum Teil abgebrochen werden mussten und deren zukünftige Durchführung unsicher ist. Im Gegensatz zu anderen Berufen, sind Akademikerinnen und Akademiker immerhin st?rker damit vertraut, von zuhause aus zu arbeiten.
Die Fragen stellte Hans-Christoph Keller, Pressesprecher der HU.
Buch
Contested Britain: Brexit, Austerity and Agency
Marius Guderjan, Hugh Mackay und Gesa Stedman
ISBN 978-1529205022
Bristol University Press
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