?Versklavte Plantagenarbeiter und europ?ische Fabrikarbeiter geh?ren zeitgeschichtlich zusammen“
Sklaverei ist heute überall auf der Welt verboten – best?tigt 1948 durch die Menschenrechtskonventionen der UNO. Dennoch gibt es auch heute Ausbeutung, Zwangsarbeit oder Kinderarbeit. So findet im n?chsten Jahr die Fu?ballweltmeisterschaft in Katar statt. Mehr als eine Million Arbeiter haben dort unter menschenunwürdigen Bedingungen Stadien und Infrastruktur zur Fu?ball-WM gebaut. Warum sind solche “moderne Formen” der Sklaverei und Ausbeutung m?glich?
Prof. Manuela Bojad?ijev: Aus meiner Sicht gehen wir erstens zu einfach von einer historischen Entwicklung aus von archaischen Formen hin zu immer freieren Formen der Arbeit. Zugleich l?sst sich zweitens nicht einfach eine klare Trennlinie ziehen zwischen freier und erzwungener Arbeit. Die ?berg?nge h?ngen sowohl von rechtlichen Bedingungen der Arbeit ab, hier vor allem vom vertraglichen Arbeitsverh?ltnis, aber auch vom Status und den gesellschaftlichen Bedingungen. Denken Sie nur an die ?berg?nge von informeller und formeller Arbeit in der heutigen europ?ischen Landwirtschaft. Und drittens brauchen wir auch eine globale Perspektive, wenn wir zu einer historischen und gegenw?rtigen Einordnung unfreier Arbeit kommen wollen. Nehmen Sie die Formen der Indentur- und Kinderarbeit anderswo, die unseren Lebensstil pr?gen in der ?Externalisierungsgesellschaft“, wie Stephan Lessenich das nennt.
Würde konkret ein Boykott der Fu?ball-WM etwas ?ndern an der Gesamtsituation und der Lage der Arbeiter:innen?
Bojad?ijev: Solche Arbeitsverh?ltnisse sind in vielen L?ndern gang und g?be. Sie sprechen hier aber die Ausrichtung eines globalen Ereignisses an, bei dem sich die tragenden Organisationen ?ffentlich immer wieder gerne für Menschenrechte und ?hnliche Werte einsetzen. Zur gleichen Zeit verweisen zahlreiche Akteure auf die Zust?nde der Ausbeutung der oftmals migrantischen Arbeiter:innen: es gibt Fan-Initiativen, ein Boykott wird ins Spiel gebracht und so weiter. Der Adressat ist allerdings die weltweite Fu?ballindustrie, es sind global agierende Sponsoren. Man muss sich also fragen, warum trotz der entsprechenden ?ffentlichkeit zur Fu?ball-WM die Aussichten und M?glichkeiten so gering sind, auf die buchst?blichen Fundamente dieser Veranstaltung Einfluss zu nehmen. Und warum einflussreiche Akteure sich da raushalten, wo es darauf ank?me.
Auch in Deutschland gibt es F?lle von Ausbeutung – etwa die der meist aus osteurop?ischen L?ndern stammenden Erntehelfer:innen oder die der Arbeiter:innen in der Fleischindustrie. Wie kann man diesen Zustand bei uns ?ndern?
Bojad?ijev: Wir sollten nicht Ausbeutung und Sklaverei verwechseln. Ausbeutung zielt darauf, wie Profit erzielt wird, das kann skrupellos und weniger skrupellos geschehen. Die dazu entsprechende historische Figur zur Zeit der Entstehung des Kapitalismus ist der/die Proletarier:in. Sklaverei dagegen zielt auf die Aneignung der Arbeit durch das Privateigentum an der Person. Und vergessen Sie nicht, dass die Sklaverei im Zuge des transatlantischen Sklavenhandels vor allem im 17. und 18. Jahrhundert neu erfunden wurde, n?mlich in ihrer industriellen Form der Plantage. Die Figur des versklavten Plantagenarbeiters und des europ?ischen Fabrikarbeiters geh?ren zeitgeschichtlich zusammen. Wie sie sich ann?hern, ist in den Arbeitsbedingungen in der Land- und Fleischwirtschaft unter Corona drastisch deutlich geworden: Wenn wir die Menschen rechtlich gleichstellen würden, k?nnte das so nicht geschehen. Das ist aber jetzt natürlich nur eine kurze Antwort…
Laut UNHCR waren im vergangenen Jahr mehr als 82 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Welche Rolle spielen dabei Ausbeutung, Zwangsarbeit oder moderne Sklaverei?
Bojad?ijev: Abwanderung hat h?ufig etwas mit dem Versuch zu tun, dem Griff der abh?ngigen Arbeit zu entkommen. Historisch war es das Entkommen aus der Leibeigenschaft in die anwachsenden St?dte. Heute fliehen die Menschen nicht selten vor Ausbeutung. Zugleich aber tr?gt die Entrechtung durch Flucht und Migration dazu bei, dass Menschen ausbeuterische Arbeitsverh?ltnisse eher akzeptieren müssen. Migration und Sklaverei werden so tats?chlich ?fter in Verbindung gesetzt. Schon in den 1960er Jahren protestierten migrantische Arbeitende in Frankfurt am Main unter dem Motto ?Wir sind keine Sklaven“. Heute werden Schleuser als Menschenh?ndler bezeichnet und so die Flucht über das Mittelmeer skandalisiert und inkriminiert. Der Wunsch nach Flucht an einen Ort vermeintlicher Freiheit ist jedoch aus meiner Sicht das verbindende und interessante Glied: raus aus diesen Verh?ltnisse zu wollen.
Inwiefern begünstigt die Globalisierung Zwangsarbeit und Ausbeutung?
Bojad?ijev: Das ist ein komplexes Ph?nomen. Wir haben die Situation der Lohnabh?ngigen hierzulande zu sichern versucht. Das geschieht durch entsprechende Wirtschaftspolitik und Sicherungssysteme, wie in Solidarit?tsmechanismen der Sozialversicherung. Dazu geh?ren dann die Versuche, bezahlbaren Wohnraum, ein Gesundheits- und Bildungssystem, Transportmittel und Kultur ?ffentlich zu finanzieren. Zudem gibt es Verhandlungen über das Lohnniveau zwischen Gewerkschaften, Unternehmen und Staat. Globalisierung tr?gt nun dazu bei, dass sich die Verhandlungsmacht national agierender Akteure verringert: outsourcing, Steuerflucht usw. sind hier Symptome einer Aufkündigung gesellschaftlicher Verpflichtungen. Wo Sicherungssysteme durch neoliberale Politiken erodieren und der ?indirekte Lohn“ sich verringert, und wo zugleich Ph?nomene der Leiharbeit und entrechtete Arbeitsverh?ltnisse wie in der Gig Economy den formellen Arbeitsmarkt unterlaufen, spüren wir die Zunahme von Armut in der Menge und exorbitanten Reichtum von wenigen. ?
Oftmals sind Konsumprodukte wie Smartphones oder Make-Up durch Kinderarbeit entstanden. Etwa bei der Rohstoffgewinnung von seltenen Erden für das Smartphone oder für das in der Kosmetik- und Autoindustrie begehrte Mineral Glimmer. Welche Auswirkungen hat der globale Konsum auf Sklaverei und Ausbeutung?
Bojad?ijev: Die Zerst?rung von Leben wie bei der Kinderarbeit steht neben der Zerst?rung der Lebensbedingung und der Umwelten oder der Vertreibung von Menschen durch land grabbing. So wie die Kulturgeschichte des Zuckers die Geschichte der globalen Ausbeutungsverh?ltnisse erz?hlen l?sst, wunderbar dargestellt etwa durch den Sozialanthropologen Sidney Mintz, gilt das heute für die Produktion von Smartphones, deren Nutzung unser Leben durchdringt. Wir müssen sicher zur Aufkl?rung beitragen. Wenn aber das Auto und das Smartphone unser Leben derart pr?gen, dass sie zu Infrastrukturen unseres Alltags werden, dann ist es mit einem anderen Konsumbewusstsein nicht getan. ?
Die Fragen stellte Kathrin Kirstein.
Veranstaltung
Berlin Science Week @ HU:
Ausbeutung, Zwangsarbeit, Flucht und Migration – moderne Formen der Sklaverei
Mittwoch, 3. November?2021, 19.00 Uhr
Humboldt-Universit?t zu Berlin, Senatssaal, Unter den Linden 6, 10117 Berlin
Mit:?
- Friedel Hütz-Adams (Südwind, Institut für ?konomie und ?kumene)?
- Prof. Dr. Herbert Brücker (Berliner Institut für empirische Migrationsforschung, HU Berlin)
Moderation: Suhana Elisabeth Reddy (IRI THESys, HU Berlin)
Die Podiumsdiskussion untersucht, welche Rolle moderne Formen der Sklaverei heute spielen und in welcher Verbindung sie zu Migration stehen.