The normativity of rationality
Die Dissertation von Benjamin Kiesewetter wurde mit dem Humboldt-Preis 2014 ausgezeichnet.
Laudatio
Benjamin Kiesewetter bekommt den Humboldt-Preis für seine philosophische Dissertation. In seiner Dissertationsschrift, die auch im internationalen Vergleich allerh?chste Ma?st?be wissenschaftlicher Exzellenz erfüllt, besch?ftigt sich Herr Kiesewetter mit einem der meistdiskutierten Probleme der gegenw?rtigen praktischen Philosophie: der Frage, ob unsere allt?glichen Beurteilungen von Verhalten und Einstellungen als ?rational“ und ?irrational“ als normative Parameter dienen k?nnen.
Zusammenfassung
Manchmal sind wir irrational. Der eine glaubt, dass er – alles in allem betrachtet – mit dem Rauchen aufh?ren sollte, bildet aber nicht die Absicht aus, dies auch zu tun. Der n?chste beabsichtigt zwar, mit dem Rauchen aufzuh?ren, ergreift dann aber nicht die Mittel, die er zu diesem Zweck für notwendig erachtet. Ein Dritter glaubt an die Evolutionstheorie, und glaubt auch, dass die Evolutionstheorie mit der Bibel nicht vereinbar ist, glaubt aber dennoch weiter an die Bibel. Ist daran eigentlich etwas auszusetzen? Sollten wir rational sein und Irrationalit?t vermeiden?
Gew?hnliche Zuschreibungen von Irrationalit?t scheinen vorauszusetzen, dass diese Frage nach der normativen Verbindlichkeit der Rationalit?t mit ?ja“ zu beantworten ist. Denn wenn wir eine Person als irrational bezeichnen, kritisieren wir sie, und damit sagen wir auch, dass ihr Zustand der ?berprüfung und ?nderung bedarf. Es geh?rt zu unserem Selbstverst?ndnis als vernunftbegabte Lebewesen, dass wir unser Denken und Handeln an rationalen Kriterien orientieren sollten. Zugleich ist diese Annahme auch zentraler Bestandteil wichtiger Theorieentwürfe, von der Antike über die Neuzeit bis in die Gegenwart. In den letzten Jahren ist die Normativit?t der Rationalit?t jedoch mit eindrucksvollen Argumenten in Zweifel gezogen worden. In meiner Arbeit verteidige ich die traditionelle Sichtweise gegen diese skeptische Position und gebe ihr gleichzeitig einen neuen Gehalt.
Virulent wird die Frage nach der Normativit?t der Rationalit?t vor dem Hintergrund einer strukturellen Rationalit?tskonzeption, die in der Philosophie ebenso wie in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften viele Anh?nger hat. Dieser Konzeption zufolge erfordert es Rationalit?t, dafür zu sorgen, dass die eigenen Meinungen, Absichten, etc. auf zu kl?rende Weise zueinander passen – etwa indem wir die Mittel zu unseren Zwecken beabsichtigen. Die eingangs skizzierten F?lle k?nnen als paradigmatische Beispiele für strukturelle Irrationalit?t gelten. Wird Rationalit?t in dieser Weise verstanden, dann l?sst sich grunds?tzlich fragen, welche Gründe wir eigentlich haben, solche Anforderungen der Rationalit?t zu erfüllen.
Der Grundgedanke der Theorie, die ich in meiner Arbeit entwickle, l?sst sich wie folgt beschreiben: Rationalit?t erfordert nicht strukturelle Koh?renz von Einstellungen als solche; sie erfordert vielmehr, dass wir diejenigen Einstellungen haben, für die wir ausschlaggebende Gründe haben. Dass es z.B. irrational ist, widersprüchliche Meinungen zu haben, liegt nicht daran, dass Rationalit?t die Widersprüchlichkeit von Meinungen selbst untersagt. Stattdessen ist die Widersprüchlichkeit nur ein Hinweis darauf, dass mindestens eine der betreffenden Meinungen der Person nicht hinreichend durch Gründe gedeckt ist. Diesen Kerngedanken arbeite ich zu einer Konzeption theoretischer und praktischer Rationalit?t aus, die den traditionellen Gedanken, dass Rationalit?t normativ ist, stützt, diesem aber gleichzeitig einen neuen Gehalt verleiht.