?Gerechte Noten? Eine Grounded Theory-Studie zu Gerechtigkeits-überzeugungen von Lehrkr?ften in Bezug auf schulische Leistungsbeurteilung im deutsch-schwedischen Vergleich“
Kathleen Falkenberg ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Vergleichende und Internationale Erziehungswissenschaft an der Humboldt-Universit?t zu Berlin. Für ihre Dissertation wurde sie mit dem Humboldt-Preis 2018 ausgezeichnet.
Kathleen Falkenberg
Foto: Barbara Herrenkind
Zusammenfassung
Die schulische Leistungsbeurteilung geh?rt zu den zentralen Aufgaben von Lehrkr?ften. Die von ihnen vergebenen Zensuren und Zeugnisse entscheiden letztlich über den Zugang zu weiterführenden Bildungseinrichtungen und/oder dem Arbeitsmarkt, sie er?ffnen oder verschlie?en damit Lebenschancen. Bisherige Forschungen zum Thema gerechter Leistungsbeurteilung fokussierten vor allem auf Fragen der diagnostischen Güte von Lehrer_innenurteilen sowie die Verteilung von Bildungsabschlüssen auf unterschiedliche Gruppen von Schüler_innen. Die vorliegende qualitativ-rekonstruktive Studie fragt demgegenüber nach den Gerechtigkeitsüberzeugungen von Lehrkr?ften in Bezug auf die schulische Leistungsbeurteilung. ?Gerechtigkeit“ wird dabei als ein sozial konstruiertes Ph?nomen gefasst, das in verschiedenen historischen, soziokulturellen oder nationalen Kontexten unterschiedliche Bedeutungen annehmen kann. Es wurden zwei Kontexte gew?hlt, deren Bildungs- und Benotungssysteme sich teilweise massiv unterscheiden: W?hrend im schwedischen Gesamtschulsystem Schüler*innen erst ab der 6. Klasse benotet werden, spielen im gegliederten nordrhein-westf?lischen System Zensuren und Zeugnisse bereits ab Klasse 3 eine gewichtige Rolle für die sp?tere Zuweisung von Schüler*innen zu weiterführenden Schulformen. In beiden L?ndern kommt den einzelnen Lehrkr?ften eine zentrale Rolle bei der schulischen Beurteilung zu, wobei die schwedischen Lehrpl?ne deutlich detailliertere Vorgaben für Lehrkr?fte enthalten als die nordrhein-westf?lischen.
Für die an der Grounded Theory Methodologie (GTM) orientierte Studie wurden 42 Sekundarschullehrkr?fte beider L?nder mithilfe episodischer Interviews zu ihren Gerechtigkeitsüberzeugungen befragt. Ebenfalls in die Analyse einbezogen wurden offizielle Regularien (z.B. Schulgesetze, Lehrpl?ne) und die Beurteilungsmaterialien der befragten Lehrkr?fte. So konnten die komplexen Wechselbeziehungen zwischen institutionellen Rahmungen, informellen Praktiken und berufsbezogenen ?berzeugungen rekonstruiert werden. Zentrales Ergebnis sind die Kernkategorie Gerechte Leistungsbeurteilung als Balanceakt und die darauf aufbauende gegenstandsverankerte Theorie sowie die vier aus der Analyse gewonnenen idealtypischen Gerechtigkeitsüberzeugungen – mathematisch-rechnerisch, prozedural-bürokratisch, diskursiv-interaktiv und kompensatorisch. Diese verweisen auf je verschiedene Legitimationsquellen für eine als gerecht empfundene Beurteilung: Für die einen sind es mathematische Operationen (z.B. Mittelwertbildung), oder die detaillierte Dokumentation von Teilbeurteilungen, für andere wiederum diskursive Aushandlungen oder der Ausgleich unterschiedlicher Lernvoraussetzungen von Schüler*innen, die eine konkrete Beurteilung als ?gerecht“ markieren. Dabei müssen unterschiedliche Erwartungen und Normen durch die Lehrkr?fte ausbalanciert werden.
Die Kernkategorie wie auch die ?berzeugungstypen wurden nicht durch getrennte l?nderspezifische Analysen gewonnen, sondern vielmehr im permanenten Vergleich über den gesamten Materialkorpus hinweg entwickelt. Im l?nderübergreifenden Vergleich zeigt sich, dass alle vier ?berzeugungen in beiden L?ndern auftreten, jedoch in unterschiedlichen Auspr?gungen. Dieser Befund demonstriert den analytischen Mehrwert einer an der GTM orientierten international vergleichenden Forschung, da er deutlich macht, dass die Unterschiede zwischen den Gerechtigkeitsüberzeugungen verschiedener Lehrkr?fte nicht zwangsl?ufig entlang von L?ndergrenzen verlaufen bzw. auf den jeweiligen nationalen Kontext zurückzuführen sind. Vielmehr finden sich für das gesamte Sample übergreifende Strukturierungskategorien, wie das professionelle Selbstbild, die Beziehungskonstellationen und das Beurteilungsverst?ndnis, die im Wechselspiel mit den institutionellen Rahmungen eine spezifische Gerechtigkeitsüberzeugung begünstigen.
Die Arbeit verbindet damit zentrale Konzepte der sozialwissenschaftlichen Gerechtigkeitsforschung mit erziehungswissenschaftlichen Forschungen zur schulischen Leistungsbeurteilung und erweitert die Grounded Theory Methodologie um eine international vergleichende Dimension.