?Es gab eine lange Tradition nationalistischen, v?lkischen und antisemitischen Denkens an den deutschen Universit?ten“
Interview mit Prof. Michael Wildt zum 90. Jahrestag der Bücherverbrennung

Prof. Dr. Michael Wildt, Foto: Matthias Heyde
- Am 10. Mai, 18 Uhr h?lt Prof. Dr. Michael Wildt einen Vortrag in der Juristischen Fakult?t, H?rsaal 213, Bebelplatz 2, 10117 Berlin
Die Bücherverbrennung am Berliner Bebelplatz wurde von Studierenden initiiert. Ist das eigentlich allgemein bekannt?
Prof. Dr. Wildt: Ich befürchte, nicht. Nicht nur in Berlin, sondern in allen Universit?tsst?dten haben sich die nationalsozialistischen und v?lkischen Studentinnen und Studenten nicht nur für diese Aktion eingesetzt. Schon im Frühjahr 1933 starteten sie die Initiative ?Wider den undeutschen Geist“ und traten auf Plakaten mit antisemitischen, rassistischen Inhalten dafür ein, 'undeutsche' Literatur von den Universit?ten zu verbannen.
Warum haben sich ausgerechnet Studierende gegen jüdische und linke Kommilitonen und Kommilitoninnen, gegen Universit?tsangestellte, Lehrpersonal und Intellektuelle organisiert – und das bereits in der Weimarer Republik?
Wildt: Heute sind Studierende weltoffen. Vor 100 Jahren jedoch vertraten viele eine deutliche deutschnationale Grundstimmung. So gab es 1919 einen gro?en Konflikt mit dem Preu?ischen Kultusministerium, weil die Deutsche Studentenschaft als Dachverband der ASten Juden und Jüdinnen ausschlie?en wollte. Der damalige preu?ische Kultusminister setzte ein demokratisches Statut durch, das keine antisemitischen Ausschlüsse duldete, dem sich viele Studentenschaften verweigerten. Studentinnen und Studenten waren damals ein wichtiges Reservoir für die NSDAP. Der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund errang schon Ende der 1920er Jahre an vielen deutschen Universit?ten die Mehrheit bei den Wahlen. 1931 übernahm sogar ein Nationalsozialist die Führung der Deutschen Studentenschaft.
Warum waren gerade junge Menschen anf?llig für diese Ideologie?
Wildt: Es gab eine lange Tradition nationalistischen, v?lkischen und antisemitischen Denkens an den deutschen Universit?ten. Auch die Karrierewege in den Staatsdienst waren eher antidemokratisch gepr?gt. Und sicher kam in den 20er Jahren die materiell prek?re Lage für Studierende hinzu. Die hohe Inflation 1923 traf gerade sie, die mit wenig Mitteln auskommen mussten, und trieb sie in die Arme der Rechten. Die linken Studierenden waren damals eine verschwindende Minderheit.
Wie hat sich der Blick auf die Bücherverbrennung – und der Umgang damit – in den vergangenen Jahrzehnten ver?ndert?
Wildt: Die Bücherverbrennung wurde in den 60er Jahren zum Thema, als die Rolle der Universit?ten im Nationalsozialismus und die aktive Teilnahme von Studierenden in den Blick gerieten. In den folgenden Jahrzehnten gab es regelm??ig Vorlesungen, Gedenkveranstaltungen, auch Lesungen aus den damals verbrannten Werken.
Sehen Sie Leerstellen im Wissen über die Bücherverbrennung?
Wildt: Im Rahmen des gro?en Projekts ?200 Jahre Humboldt-Universit?t“ erschienen mehrere B?nde zur Universit?tsgeschichte, darunter auch zu ihrer Rolle in der NS-Zeit. Ein studentisches Projekt widmete sich den verfolgten jüdischen Studierenden, was auf der Website der HU dokumentiert ist. Noch zu wenig wurde bislang die Lage in den einzelnen Fakult?ten und Instituten aufgearbeitet. Vorbild dafür kann die neue Ausstellung von Studierenden über die Verfolgung von Juristen und Juristinnen an der HU sein. Immerhin wurde ein Drittel der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zwischen 1933 und '45 verfolgt, vertrieben oder ermordet. Deren Biographien w?ren noch zu einem gro?en Teil zu recherchieren.
Bei den Historikern zum Beispiel?
Wildt: Ja, ganz genau. Nicht zuletzt waren Angeh?rige der Berliner Universit?t tief in nationalsozialistische Verbrechen verstrickt. Konrad Meyer, der den verbrecherischen Generalplan Ost entworfen hat, Eva Justin, die bei der Verfolgung von Roma und Sinti geholfen hat und an unserer Universit?t promoviert wurde, und etliche andere.
Zum 80. Jahrestag stellte die HU die Frage, ob die Autoren und Autorinnen vergessen und ihr Wissen vernichtet wurden. Eine rhetorische Frage?
Wildt: Ja und nein. Natürlich sind Erich K?stner, Anna Seghers oder Kurt Tucholsky nicht vergessen. Eine Historikerin und Religionsphilosophin wie Margarete Susman drohte hingegen vergessen zu werden, bis sie sp?t in den 1990er Jahren wiederentdeckt wurde. Für die einzelnen Fachdisziplinen gibt es da durchaus noch etliche Kollegen und Kolleginnen wieder aufzufinden und zu rehabilitieren, deren Werke von den Nationalsozialisten ausgel?scht wurden.
Inwiefern wurden auch diese Arbeiten damals verbrannt?
Wildt: Die Bücherverbrennung war ja nur der barbarische H?hepunkt. Die Studierenden haben schon in den Wochen vorher in den ?ffentlichen Bibliotheken mehr als 20.000 Bücher entfernt, die dann auf dem heutigen Bebelplatz vor der Universit?t verbrannt wurden. Berliner Bibliothekare haben selbst mitgewirkt und schwarze Listen erstellt. Auch in den Fakult?tsbibliotheken ist ges?ubert worden.
Was bedeutet das Erinnern an den 10. Mai heute für uns – mit Blick darauf, dass auch gegenw?rtig literarische und wissenschaftliche Werke verboten werden?
Wildt: Auch heute werden in vielen L?ndern Bücher vernichtet und aus dem Verkehr gezogen. So werden in einigen republikanisch dominierten US-Bundesstaaten Bücher über Homosexualit?t im Schulunterricht verboten und aus den Bibliotheken entfernt.
Inwiefern hilft das Erinnern gegen diese Praxis?
Wildt: Dass wir uns mit solchen Tendenzen auseinandersetzen, dass wir dafür streiten, dass wissenschaftliches Denken bedeutet, sich mit Argumenten und wissenschaftlich beweisbaren Fakten auseinanderzusetzen und dass dies keine ideologischen Ausschlüsse bedeutet.
Was bedeutet das konkret für Ihr Fachgebiet, die Geschichtswissenschaften?
Wildt: Wir haben es zum Beispiel im 19. und 20. Jahrhundert mit einer Vielzahl von antisemitischen und rassistischen Schriften zu tun, die wir brauchen, um antisemitische und rassistische Diskurse, Ideologien, Strukturen analysieren zu k?nnen, die aber nicht einfach und ohne Kontextualisierung verbreitet werden k?nnen. Das Münchner Institut für Zeitgeschichte hat Hitlers Buch ?Mein Kampf“, als es nach langer Zeit 2015 wieder frei gedruckt werden durfte, als eine wissenschaftlich kommentierte Ausgabe herausgegeben, die online frei zug?nglich ist. Das finde ich eine gute Umgangsweise.
Wie sieht es aber mit literarischen Werken aus? In den vergangenen Jahren wurde kontrovers diskutiert, ob kolonialistisch gef?rbte Sprache aus Kinderbüchern wie Pipi Langstrumpf von Astrid Lindgren umgeschrieben werden soll.
Wildt: Keine einfache Frage. Es ist wichtig, dass wir uns st?rker bewusst werden, welche Machtasymmetrien in Sprache enthalten sind und dass bestimmte W?rter verletzen und deshalb vermieden werden sollten. Dennoch pl?diere ich für Gelassenheit. Sprache ver?ndert sich, weil sich Menschen und gesellschaftliche Kontexte ver?ndern. Warum soll es nicht von Karl May oder Astrid Lindgren drei, vier, fünf verschiedene Fassungen geben? Auch die Bibel gibt es mittlerweile in gender-gerechter Sprache. Was sagbar oder nicht sagbar sein soll, bleibt Gegenstand gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse.
Die Fragen stellte Isabel Fannrich-Lautenschl?ger.