Herta Ruth Selbiger
24.09.1910 - 08.09.1942
"Sehr geehrte Fr?ulein Kollegin,
Ich bringe Ihnen hiermit zur Kenntnis, dass Ihre Promotion in der Fakult?tssitzung vom 9. Februar 1938 stattgefunden hat, wozu ich Ihnen gratuliere. Den Auftrag zur Anfertigung des Doktordiplomes habe ich der Universit?t erteilt."1
Diese lang erhoffte Nachricht erhielt Herta Ruth Selbiger, anders als so viele nicht-arische deutsche Studentinnen und Studenten in der Zeit des nationalsozialistischen Regimes. Sie sollte aber ihre Doktorarbeit im Fach Medizin an der Universit?t Bern in der Schweiz schreiben, da sie an ihrer Heimatuniversit?t in Berlin aus "rassischen" Gründen nicht promovieren durfte.
Wohnung der Familie Selbiger in der Weichselstra?e 65. Neuk?lln.
Der kurze Lebenslauf, den Herta Ruth Selbiger ihrer Dissertation beifügte, erz?hlt sehr wenig über das Leben dieser Frau. Mit Hilfe verschiedener Quellen konnten wir über ihre Geschichte mehrere Einzelheiten, die nicht unbedingt eine lückenlose Kontinuit?t bilden, herausfinden.
Herta Ruth Selbiger wurde am 24. September 1910 in Berlin geboren. Ihr Vater, Georg Selbiger, war ein Kaufmann, der im Landkreis Schlochau in Westpreu?en geboren wurde. Ihre Mutter Erna (geb. Lasker) stammte ebenfalls aus Westpreu?en, aus der Stadt Lessen.2 Das Ehepaar hatte zwei Kinder: Herta und Herbert (geboren 1913).3
Herta Selbiger besuchte von April 1917 bis April 1918 die "2. M?dchen-Mittel-Schule", danach bis 1923 das 1. Lyzeum Neuk?lln und absolvierte im April 1930 die "1. St?dtische Studienanstalt". Im Sommersemester 1930 begann sie ihr Medizinstudium an der Friedrich-Wilhelms-Universit?t Berlin, und studierte dort bis dem Wintersemester 1935/1936.4 W?hrend dieser Zeit bestand sie die ?rztliche Staatsprüfung, durfte aber ihr Studium bis zur Promotion "aus rassischen Gründen" nicht fortsetzen.5
Da die Ausübung des Arztberufes in Deutschland für sie verboten war, legte Herta Selbiger in Berlin das Krankenschwesterexamen ab und arbeitete ab 1937 in verschiedenen Abteilungen des Jüdischen Krankenhauses Berlin.6
Im Jahr 1937 immatrikulierte sie sich an der Universit?t Bern, wo sie das medizinische Fachexamen ablegte und ihre Doktorarbeit mit dem Titel "Beitrag zur Chirurgie des Pankreas mit besonderer Berücksichtigung der St?rung seiner inneren und ?u?eren Sekretion", unter der Betreuung ihres Doktorvaters, des bekannten Professors de Quervain, schrieb.7 In seinem Gutachten über die Arbeit schrieb Prof. de Quervain, dass die Dissertation "weniger grunds?tzlichen als casuistischen Charakter [hat], enth?lt aber einiges Interessante und Wissenswerte", und stellte fest, dass eine "gründlichere Bearbeitung" einiger Teile, vor allem wegen der "gegenw?rtigen politischen Situation der nicht-arischen Doktoranden in Deutschland" nicht erfolgen k?nne.8
Nach ihrer Promotion arbeitete Herta Selbiger weiter im Jüdischen Krankenhaus. Nach dem Krieg sammelte ihr Bruder, der überlebt hat, einige Dienstzeugnisse, die sie als hervorragende Mitarbeiterin beschreiben. "Die Laboratoriumsarbeiten machte sie mit Flei? und Gewissenhaftigkeit",9 wurde von der Abteilung für Lungenkranke berichtet. "Ich kann Frl. Dr. S. das Zeugnis ausstellen, dass sie mit gro?er Gewissenhaftigkeit und mit viel Verst?ndnis die ihr übertragenen Pflegen ausgeführt hat [...] ich kann sie bestens empfehlen" schrieb der Leiter der geburtshilflich-gyn?kologischen Abteilung.10
Sie hat jederzeit Verst?ndnis und menschliche Teilnahme im Umgang mit den Patienten gezeigt, deren Wünsche zu erfüllen sie sich stets bemühte [...] Ein besonders starkes Verantwortungsbewusstsein, sowie Anpassungs- und Einordnungsf?higkeit machen sie für jede Krankenanstalt und überall in der Krankenpflege zu einer wertvollen Kraft, so die Tuberkulose-Abteilung."11
Ende der 1930er Jahre emigrierten ihr Bruder und seine Frau über Belgien nach Brasilien,12 aber Herta Selbiger blieb mit ihren Eltern in ihrer Wohnung in der Weichselstra?e 65 in Neuk?lln. Sie erreichte der Befehl zur R?umung der Wohnung, der sie aufforderte, am 20. November 1941 "zur Vermeidung sch?rferer Ma?nahmen"13 in der Oranienburger Stra?e 31 zu erscheinen. In der Verm?genserkl?rung, die sie bei der Evakuierung der Wohnung ausfüllen musste, notierte sie neben anderer pers?nlicher Habe auch ihren Arztschrank, ihre Arztablage und diverse ?rztliche Instrumente.14
Brief von Herta Selbiger an die Universit?t Bern vom 2. Dezember 1937.
Herta Ruth Selbiger wurde am 5. September 1942 zusammen mit ihren Eltern von Berlin nach Riga deportiert. Alle drei wurden drei Tage sp?ter ermordet.15
- 1. Universit?tsarchiv Bern, Akte BB05.10.122, Brief vom Dekan der Medizinischen Fakult?t an Herta Ruth Selbiger vom 10.02.1938.
- 2. Onlineversion des Gedenkbuches an Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 - 1945, www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/intro.html, abgerufen Februar 2010.
- 3. Verm?genserkl?rung von Herta Ruth Selbiger, ausgefüllt am 29.08.1942, in: Brandenburgisches Landeshauptarchiv, REP 36A Nr. II35356, S. 19.
- 4. Vgl. Universit?tsarchiv Bern, Lebenslauf von Herta Ruth Selbiger, verfasst wahrscheinlich vor Dezember 1937.
- 5. Vgl. Eidesstattliche Versicherung von Herbert Selbiger, 1956, in: Entsch?digungsamt Archiv Berlin, Akte von Herta Ruth Selbiger, Reg. Nr. 316.018, S. E5.
- 6. Vgl. ebd.
- 7. Vgl. Universit?tsarchiv Bern, Akte BB05.10.7, S. 114.
- 8. Universit?tsarchiv Bern, Akte BB05.10.122, Gutachten von Prof. Fritz de Quervain vom 03.12.1937.
- 9. Dienstzeugnis von der Abteilung der Lungenkranken im Jüdischen Krankenhaus vom 21.061938, in: Entsch?digungsamt Archiv, S. E8.
- 10. Dienstzeugnis von der geburtshilflich-gyn?kologischen Abteilung im Jüdischen Krankenhaus vom 10.12.1938, in: Entsch?digungsamt Archiv, S. E10.
- 11. Dienstzeugnis von der Tuberkulose-Abteilung im Jüdischen Krankenhaus vom 31.01.1940, in: Entsch?digungsamt Archiv, S. E11.
- 12. Wegner-G?rtner Family Tree, http://music-at.homeip.net/family/family_tree_v2/wegner-gartner/Wegner-Gartner%20Family%20Tree-66.htm, abgerufen November 2009.
- 13. Befehl zur R?umung der Wohnung von der Jüdischen Kulturvereinigung zu Berlin e.V. an die Familie Selbiger, Entsch?digungsamt Archiv, S. D4.
- 14. Vgl. Verm?genserkl?rung von Herta Ruth Selbiger, S. 42.
- 15. Vgl. Onlineversion des Gedenkbuches an Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, abgerufen Februar 2010.