?Die politischen Entscheidungstr?ger müssen besser vermitteln, wie dringend Deutschland Migration braucht“

G?kce Yurdakul, Co-Direktorin des BIM.?
Foto: privat
Am 10. November feierte das Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) sein zehnj?hriges Bestehen mit einem Jubil?umsfest mit umfangreichem Programm und anschlie?ender Party im Hauptgeb?ude. Begleitend zum Jubil?um pr?sentiert das Institut eine Vortragsreihe mit internationalen G?sten unter dem Titel ?Redefining the Horizons of Critical Migration Research“. G?kce Yurdakul, Co-Direktorin des BIM, spricht im Interview über Meilensteine, Forschungsschwerpunkte und den Transfer in die Gesellschaft.
Das BIM wurde 2014 gegründet. Was sind die Meilensteine der zehnj?hrigen Institutsgeschichte?
Der erste war die Gründung selbst. Berlin als Migrationsstadt brauchte ein Forschungsinstitut, das die vielen wissenschaftlichen Perspektiven und politischen Debatten zum Thema Migration zusammenbringt und Forschungslücken schlie?t. Auf Initiative mehrerer renommierter Partner wurde die Einrichtung eines Instituts für Integrations- und Migrationsforschung ausgeschrieben. Die Humboldt-Universit?t bekam den Zuschlag. So haben wir vor zehn Jahren mit acht Abteilungen begonnen. Ein weiterer Meilenstein entwickelte sich durch die Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland nach 2015. Damals haben wir unsere Forschung um die Aspekte Flucht und Asyl erweitert. Als Drittes sehe ich die Gründung des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM), das bundesweit Forschungskooperationen und den wissenschaftlichen Austausch zwischen Migrationsforschungsinstituten in Deutschland st?rkt.
Was kann die Forschung des BIM für die Gesellschaft leisten?
Deutschland ist eine Migrationsgesellschaft, daher müssen wir erforschen, welche Folgen und Konflikte das mit sich bringt. Wir arbeiten in einem unserer Projekte zu Integration und Diskriminierung von Muslimen in Deutschland. Dabei schauen wir uns unter anderem die Radikalisierung im Internet an, das gesellschaftliche Engagement muslimischer Frauen und Stereotypisierungen und Stigmatisierungen gegenüber Muslimen in den deutschen Medien. Wir arbeiten dabei nicht nur mit akademischen Einrichtungen zusammen, sondern auch mit zivilgesellschaftlichen Organisationen, lernen von ihrer Arbeit und treiben auch gemeinsame Forschung voran.
Nach dem Terror-Angriff der Hamas auf Israel feierten Demonstrierende in den Stra?en von Berlin. Welche Empfehlungen hat das BIM, wie sollte die deutsche Politik damit umgehen?
Es ist v?llig inakzeptabel, einen grausamen Terrorakt zu feiern, und ich vertraue dem deutschen Staat, dass er angemessen reagiert. Politik sollte auch hier, soweit m?glich, wissenschaftliche Erkenntnisse zur Grundlage von Entscheidungen machen. Unsere wichtigste Empfehlung ist, nicht in populistische Vereinfachung abzusinken – Hamas repr?sentiert nicht alle Pal?stinenser und die Regierung Netanjahu nicht alle Israelis – im Gegenteil, viele Israelis haben seit Monaten gegen die Regierungspolitik demonstriert. Es gibt weder ?die Israelis“ noch ?die Pal?stinenser“ und es ist die Aufgabe der Politik, die Menschen in Deutschland daran zu erinnern. Es muss natürlich erst einmal darum gehen, weitere Opfer in der Zivilbev?lkerung zu vermeiden und generell die kriegerischen Handlungen so schnell wie m?glich zu beenden.
Das BIM forscht seit langem über Diskriminierung, Rassismus, Islamismus und Radikalisierung. Die Erkenntnislage ist eindeutig – Vorurteile und Stereotypen gegenüber Migrant:innen aber auch zwischen unterschiedlichen Migrant:innen – Stichworte Antisemitismus und Islamfeindlichkeit – nehmen seit Jahren zu und populistische Ma?nahmen zur Begrenzung von Zuwanderung verst?rken diese nur. Wir werden diese Forschung ausbauen. Wir haben schon in der Vergangenheit über Antisemitismus geforscht, aber die jüngsten Ereignisse zeigen, dass hier noch sehr viel mehr Erkenntnisse notwendig sind.
Die Zahl der Asylbewerber ist in letzter Zeit deutlich gestiegen, der Rechtspopulismus hat starken Zulauf bekommen, Obergrenzen für Geflüchtete werden gefordert. Welche Erkenntnisse hat das BIM zur aktuellen Migrationsdebatte anzubieten?
Wir gehen gegen Vorurteile vor, etwa, dass Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, standardm??ig staatliche Leistungen beziehen und nicht arbeiten würden. 54 Prozent der Menschen, die 2015 als Schutzsuchende nach Deutschland gekommen sind, haben sechs Jahre sp?ter einen Arbeitsplatz gefunden. Wir machen auch deutlich, dass der Begriff ?Migrationshintergrund“ problematisch ist, weil er gleich zwei oder drei Generationen zu Migrant:innen macht. Meine Tochter zum Beispiel, die in Berlin geboren ist, nie in der Türkei gelebt hat, perfekt deutsch spricht und in Deutschland zur Schule ging, sollte nicht immer noch als ?Deutsche mit Migrationshintergrund“ bezeichnet werden. Diese Menschen sind Deutsch, nicht mit ?mit“ oder ?aber.“ Wir haben mehrere Forschungsprojekte zum Thema, das BUA-gef?rderte Projekt ?Transforming Solidarities“ fokussiert beispielsweise auf das Thema Solidarit?t in der Migrationsgesellschaft, das Migration und Flucht nicht als Gef?hrdung des sozialen Zusammenhalts begreift, sondern als soziale Realit?t.
Und wie hat das BIM bisher auf die Migrationsdebatte in Deutschland Einfluss genommen?
Unsere Expertise wird von Ministerien und politischen Entscheidungstr?ger:innen, aber auch von Stiftungen und zivilgesellschaftlichen Organisationen nachgefragt. Unser Co-Direktor Herbert Brücker hat als Sachverst?ndiger die Reform des Fachkr?fteeinwanderungsgesetzes im Bundestag begleitet und ber?t die Bundesregierung und andere Akteure immer wieder zu Fragen von Flucht und Arbeitsmigration. Auch unsere Publikationen und Vortr?ge auf nationalen und internationalen wissenschaftlichen Konferenzen beeinflussen die deutsche Migrationspolitik durch Fakten und Daten.
Welche Forschungsergebnisse des BIM helfen bei der Frage, wie migrantische Gesellschaften besser funktionieren k?nnen? Was kann die Politik besser machen?
Deutschland hat erst in den neunziger Jahren, also sehr sp?t, akzeptiert, dass es eine Migrationsgesellschaft ist, obwohl es bereits seit Jahrzehnten Migrant:innen in Deutschland gibt. Die Migrationsgesellschaft ist sehr dynamisch, aber das Projekt, die gesetzlichen Rahmenbedingungen für eine solche Gesellschaft zu schaffen, hat viel zu sp?t begonnen und wurde teilweise zum Spielball politischer Partikularinteressen. Ein Beispiel ist die Doppelstaatsbürgerschaft, die in anderen L?ndern seit vielen Jahren problemlos funktioniert, w?hrend bei uns viele Migrant:innen zu einer Entscheidung für oder gegen Deutschland gezwungen wurden und damit auch ausgegrenzt sind, wenn sie ihre bisherige Staatsbürgerschaft nicht aufgeben. Auch der Umgang mit dem Islam als einer Realit?t in der deutschen Gesellschaft hat viel zu sp?t begonnen. Die staatliche Ausbildung von Imamen h?tte beispielsweise auch schon viel früher beginnen k?nnen. Die politischen Entscheidungstr?ger:innen müssen hier schneller handeln und auch besser vermitteln, wie dringend Deutschland Migration braucht, schon allein wegen der demographischen Entwicklung der n?chsten Jahrzehnte.?
Welche Pl?ne hat das BIM für die Zukunft?
In den vergangenen zehn Jahren sind wir zu einem gro?en und forschungsintensiven interdisziplin?ren Institut geworden. Wir m?chten weiterhin in diese Richtung gehen und die Migrationspolitik und die Zivilgesellschaft mit unseren Forschungsergebnissen und Fakten informieren. Wir sind dabei weltweit mit etablierten Migrationseinrichtungen verbunden.
?ber das Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung
Das BIM betreibt theoriegeleitete und empirische Wissenschaft und wirkt dabei in die breite ?ffentlichkeit – mit dem Ziel, die ?ffentlichen Diskurse zum Thema Integration und Migration mit wissenschaftlicher Expertise zu versachlichen.
Ausgangspunkt ist die Frage, wie sich Integrations- und Migrationsprozesse in Deutschland und Europa bisher vollzogen haben und künftig entwickeln werden. Die 金贝棋牌vielfalt ist dabei sehr weit gestreut: Es geht um die Integration von Migrant:innen in das Schulsystem, die Integration von Geflüchteten in den Arbeitsmarkt, die Erforschung der Migrationsgesellschaft, die Analyse des Struktur- und Funktionswandels von Sport und Fu?ball, die Ein- und Ausschlie?ungsprozesse im Gesundheitsbereich, Muslim:innen und den Islam in Europa, eine postmigrantische Theoriebildung bis hin zur Erforschung von Migrationsbewegungen aus den Herkunfts- und Transitl?ndern.
Interview und Text: Vera G?rgen
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Vortragsreihe ?Redefining the Horizons of Critical Migration Research“